KREBS: Die unsterbliche Krankheit (German Edition)
Meinung dadurch zu erklären, dass bei Kindern in Retinoblastom-Familien ein mutiertes Allel bereits über die Keimbahn vererbt wurde.
Auf Menschen,
die veränderte Allele ererbt haben, lastet eine schwere genetische Bürde. Eine Keimbahnmutation stattet alle Zellen des betroffenen Organismus mit dem defekten Allel aus. Die Gefahr ist daher groß, dass in einer beliebigen der Abermilliarden Zellen der Netzhaut die Sicherheitskopie, das zweite, gesunde Allel dieses Gens, ebenfalls mutiert und ein Tumor entsteht. Bei den spontanen, nicht erblichen Fällen treten dagegen praktisch ausschließlich unilaterale Tumoren auf, weil das Risiko einer gleichzeitigen Mutation beider Allele in beiden Augen verschwindend gering ist.
Diese Mutationen unterscheiden sich von den Punktmutationen
im ras- oder src-Gen darin, dass immer beide Kopien des Gens betroffen sein müssen, damit der entsprechende Phänotyp entsteht. Daraus schloss Knudson, dass diese Mutationen nicht zur Überaktivität, sondern im Gegenteil zum Ausfall des betreffenden Gens führen. Im Umkehrschluss scheint also das normaleRetinoblastom-Gen (rb-Gen) die Zelle vor der Entartung zu schützen. Damit wäre ein Gen gefunden, das den »teilungshemmenden Chromosomen« entspräche, die Boveri fast 60 Jahre zuvor vorausgesagt hatte. In der modernen Diktion der Molekulargenetik werden diese Gene deshalb auch Tumorsuppressor-Gene genannt. Mutierte Tumorsuppressor-Gene sind mit einer defekten Bremse zu vergleichen, während Onkogene wie ras oder src eher an ein Gaspedal erinnern, das ganz durchgedrückt und arretiert wird, also sich in Vollgasposition befindet.
Als Knudson seine Zwei-Treffer-Hypothese aufstellte, war das Retinoblastom-Gen (rb-Gen) noch reine Fiktion. Tatsächlich sollte es aber wenig mehr als zehn Jahre später zur Realität werden. Webster Cavennee entdeckte das Gen Anfang der 1980er-Jahre auf dem Chromosom 13. 32 Kurze Zeit danach wurde auch das entsprechende Eiweiß gefunden. Ganze Gruppen von Wissenschaftlern setzten sich auf seine Spur und wollten herausfinden, welche Aufgaben die Rb-Proteine in einer Zelle haben.
Das Retinoblastom-Protein (Rb-Protein) ist im wahrsten Sinn des Wortes mit einem Bremsklotz zu vergleichen. In ruhenden Zellen bindet es an ein Eiweiß namens E2F und blockiert damit dessen Wanderung in den Zellkern. Genau wie AP-1 ist E2F ein Transkriptionsfaktor . Unschwer zu erraten, das E2F vor allem Gene aktiviert, deren Produkte die Rädchen des Zellzyklus weiter vorandrehen.
Die Inaktivierung von Rb hat aber noch weitere Folgen für eine Zelle. Das Rb-Protein spielt auch bei der Differenzierung von Stammzellen in reifere Zelltypen eine Rolle. Es unterstützt die Metamorphose schnell proliferierender Generalisten in vergleichsweise träge, sich langsam teilende Spezialisten, die sich gutmütig verhalten und schwer auf eine schiefe Bahn zu bringen sind. Rb-Mutationen blockieren diese Differenzierungsprozesse. Damit kann eine Population von Zellen mit erhöhtem Entartungspotential entstehen.
Defekte Rb-Proteine setzen aber auch Teile präformierter Selbstmordprogramme außer Gefecht. Diese Selbstmordprogramme sind aktive und biochemisch sehr präzis definierte Systeme, die ähnlich aufgebaut sind wie die ras -Signalkaskaden. Ein kritischer Stimulus setzt eine Signalkaskade in Gang, an dessen Ende die Selbstauflösung der Zelle steht. Selbstmord- oder auch Apoptose-Programme sind eine Art ultima ratio , eine letzte Verteidigungslinie des Körpers, um ungebärdige, irreparabel veränderte Zellen auszuschalten, bevor sie sich im Körper unkontrolliert vermehren.
Die Geschichte der Erforschung des rb-Gens
ist längst nicht abgeschlossen. Vermutlich hält dieses Protein mit den vielen Gesichtern noch einige Überraschungen bereit. Mutationen des Retinoblastom-Gens sind keine exklusive Eigenschaft der Retinoblastome. Inaktivierende Mutationen beider Allele wurden inzwischen auch beim Blasenkrebs, beim Brustkrebs, in Lungentumoren, aber auch bei Leukämien gefunden.
Wenn die 1970er-Jahre das Jahrzehnt der Onkogene waren, kann die Zeit zwischen 1980 und 1990 mit Recht als die Dekade der Tumorsuppressor-Gene bezeichnet werden. Kurz nach dem rb-Gen wurde ein zweites wichtiges Tumorsuppressor-Gen entdeckt. Dieses Gen und sein Protein sind inzwischen das vielleicht meistuntersuchte Molekülpaar der Geschichte. Das Gen trägt den unspektakulären Namen tp53, das von ihm codierte Eiweiß wird als P53 bezeichnet. Die weltweit größte Datenbank
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