Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
verlangt habe.
Natürlich, meinen Sie. Natürlich ist etwas anderes. Essen zum Beispiel: Essen ist von Anfang an freudig, leicht, angenehm und nicht beschämend, das hier aber ist ekelhaft, beschämend und schmerzhaft. Nein, das ist nicht natürlich! Und ein unverdorbenes Mädchen, das weiß ich sicher, wird es immer hassen.»
«Aber wie sollte die menschliche Rasse dann fortbestehen?»
«O ja, wenn nur die menschliche Rasse nicht ausstirbt!», sagte er mit grimmiger Ironie, als hätte er auf diesen ihm wohlbekannten, unredlichen Einwand schon gewartet.«Wenn einer die Menschen aufruft, keine Kinder mehr zu zeugen, damit die englischen Lords sich ungestört weiter den Bauch vollschlagen können, das ist erlaubt. Wenn einer sie aufruft, ihrer eigenen Bequemlichkeit halber keine Kinder mehr zu zeugen, ist das auch erlaubt; aber wehe, es sagt einer
auch nur einen Ton darüber, dass man aus moralischen Gründen keine Kinder zeugen soll – du lieber Himmel, gleich gibt es einen Aufschrei: Man fürchtet, die ganze Menschheit könnte aussterben, nur weil ein oder zwei Dutzend Leute keine Schweine mehr sein wollen. Aber entschuldigen Sie. Das Licht ist mir unangenehm, darf ich es abdunkeln?», sagte er und zeigte auf die Lampe.
Ich sagte, mir sei es gleich; darauf stieg er, hastig wie bei allem, was er tat, auf seinen Sitz und zog den Wollvorhang vor die Lampe.
«Dennoch», sagte ich,«wenn alle das zu ihrem Gesetz erklären würden, würde die menschliche Rasse aussterben.»
Er antwortete nicht sofort.
«Sie fragen, wie die menschliche Rasse fortbestehen würde?», sagte er schließlich, nachdem er sich wieder mir gegenübergesetzt, sich weit nach vorn gebeugt und auf die gespreizten Knie gestützt hatte.«Aber wozu soll sie denn fortbestehen, die menschliche Rasse?»
«Was heißt wozu? Andernfalls würden wir ja selbst nicht existieren.»
«Und wozu sollen wir existieren?»
«Was heißt wozu? Um zu leben.»
«Und wozu leben? Wenn es kein Ziel gibt,
wenn uns das Leben nur um des Lebens willen gegeben ist, dann braucht man auch nicht zu leben. Wenn es so ist, dann haben all die Schopenhauers und Hartmanns völlig recht, und die Buddhisten auch. 11 Wenn das Leben aber ein Ziel hat, dann ist klar, dass es mit dem Erreichen dieses Ziels endet. Und so ist es auch», sagte er sichtlich erregt; offenbar lag ihm dieser Gedanke sehr am Herzen.«Genau so ist es auch. Sehen Sie, wenn das Ziel der Menschheit das Heil, das Gute, die Liebe ist, oder wie Sie es nennen wollen; wenn das Ziel der Menschheit das ist, was bei den Propheten steht, dass alle Menschen sich in Liebe vereinen, dass Schwerter zu Pflugscharen geschmiedet werden und so weiter, was ist es dann, was dem Erreichen dieses Ziels im Weg steht? Es sind die Leidenschaften. Und unter den Leidenschaften ist die stärkste, bösartigste und hartnäckigste die sexuelle, die der körperlichen Liebe, und deshalb wird, wenn die Leidenschaften vernichtet werden – alle, auch die letzte, stärkste von ihnen, die der körperlichen Liebe -, erst dann wird also die Prophezeiung in Erfüllung gehen, die Menschen werden sich vereinen, die Menschheit erreicht ihr Ziel und hat keinen Grund mehr zu leben. Solange die Menschheit aber lebt, steht ihr ein Ideal vor Augen,
und zwar nicht das Ideal der Kaninchen und Schweine, die nur nach Vermehrung streben, und auch nicht das Ideal der Affen und der Pariser, die nur die sexuelle Leidenschaft möglichst raffiniert genießen wollen, sondern das Ideal des Guten, das man durch Enthaltsamkeit und Reinheit erreicht. Nach diesem Ideal streben die Menschen seit jeher. Und was bedeutet das?
Es bedeutet, dass die körperliche Liebe ein Notventil ist. Wenn die heute lebende Generation von Menschen das Ziel nicht erreicht, dann nur wegen der Leidenschaften, die sie in sich trägt, und die stärkste davon ist eben die sexuelle. Aber solange es die sexuelle Leidenschaft gibt, gibt es auch eine neue Generation und folglich auch die Möglichkeit, dass diese nächste Generation das Ziel erreicht. Und wenn diese es nicht erreicht, kommt wieder die nächste, so lange, bis das Ziel erreicht ist, bis die Prophezeiung sich erfüllt und die Menschen sich vereinen. Wenn es nicht so wäre, was wäre denn die Folge? Angenommen, Gott hätte die Menschen geschaffen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, und er hätte sie als Sterbliche ohne sexuelle Leidenschaft erschaffen, oder aber als Unsterbliche. Wenn sie sterblich wären, aber ohne sexuelle Leidenschaft,
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