Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
unerfreulicher Dinge sagten. Der Eindruck, den dieser erste Streit hinterließ, war verheerend. Ich nannte es einen Streit, doch das war kein Streit, es war nur sichtbar geworden, welcher Abgrund in Wirklichkeit zwischen uns lag. Nachdem die Sinnlichkeit befriedigt war, hatte sich auch die Verliebtheit erschöpft, und nun standen wir uns in unserem wirklichen Verhältnis gegenüber: als zwei einander vollkommen
fremde Egoisten, von denen jeder sich mit Hilfe des anderen möglichst viel Lust verschaffen wollte. Ich nannte das, was zwischen uns vorgefallen war, einen Streit, doch es war kein Streit, sondern nur unser wirkliches Verhältnis zueinander, das durch das Aussetzen der sinnlichen Anziehung sichtbar geworden war. Ich begriff nicht, dass ebendieses kalte, feindselige Verhältnis unser normales Verhältnis war, ich begriff es deshalb nicht, weil die Feindseligkeit in der ersten Zeit bald wieder unter einer neuen Welle von Sinnlichkeit verschwand, unter einem Sich-Verlieben.
Ich glaubte also, wir hätten uns gestritten und wieder versöhnt, und in Zukunft würde das nicht mehr vorkommen. Aber schon in diesen ersten vier Flitterwochen folgte sehr bald die nächste Phase der Übersättigung, wieder hatten wir genug voneinander, und wieder kam es zum Streit. Dieser zweite Streit traf mich noch schmerzhafter als der erste. Also war der erste doch kein Zufall gewesen, sondern so war es und musste es sein, und so würde es auch bleiben, dachte ich. Der zweite Streit traf mich umso mehr, als er aus dem lächerlichsten Anlass entstand. Er hatte irgendetwas mit Geld zu tun, Geld, mit dem ich nie sparte, schon gar nicht, wenn es um meine
Frau ging. Ich erinnere mich nur noch, dass sie die Sache so hinstellte, als hätte ich mit irgendeiner Bemerkung erkennen lassen, dass ich sie mit Hilfe des Geldes, auf das ich angeblich ein alleiniges Anrecht behauptet hatte, beherrschen wollte; irgendetwas Lächerliches, Dummes, Gemeines, das weder zu mir noch zu ihr passte. Ich wurde ärgerlich, warf ihr Taktlosigkeit vor, sie mir ebenfalls, und schon ging es wieder dahin. In ihren Worten und ihrem Gesichtsausdruck sah ich dieselbe harte, kalte Feindseligkeit, die mich schon beim ersten Mal so bestürzt hatte. Mit meinem Bruder, meinen Freunden, meinem Vater hatte ich früher wohl auch gestritten, aber nie hatte es zwischen uns diese eigentümliche, giftige Wut gegeben. Nach einiger Zeit jedoch verschwand der gegenseitige Hass wieder hinter der Verliebtheit, also der Sinnlichkeit, und ich tröstete mich noch einmal mit dem Gedanken, dass diese beiden Streitereien Irrtümer gewesen seien, die sich korrigieren ließen. Doch dann folgte der dritte und der vierte Streit; ich begriff, dass es so sein musste und so auch bleiben würde, und mir graute vor dem, was mir bevorstand. Zudem quälte mich der schreckliche Gedanke, ich sei der Einzige, dessen Zusammenleben mit seiner Frau so übel, so ganz anders als erwartet
verlaufe, während in anderen Ehen dergleichen nicht vorkomme. Damals wusste ich noch nicht, dass dies ein verbreitetes Schicksal war, dass aber alle genau wie ich glaubten, es sei ausschließlich ihr Unglück, und dieses ausschließliche, beschämende Unglück nicht nur nach außen, sondern auch vor sich selbst verbargen und es sich nicht eingestanden.
Es begann in den ersten Tagen, und von da an hörte es nicht mehr auf, es wurde immer heftiger, immer schlimmer. Im tiefsten Herzen ahnte ich schon nach den ersten Wochen, dass ich in der Falle saß, dass meine Erwartungen sich nicht erfüllt hatten und dass die Ehe kein Glück war, sondern ein schweres Leid, doch wie jedermann wollte auch ich mir das nicht eingestehen (ich würde es mir heute noch nicht eingestehen, wenn es nicht so geendet hätte), ich verbarg es nicht nur nach außen, sondern auch vor mir selbst. Heute wundert es mich, dass ich meine wahre Lage nicht erkannte. Man hätte sie allein schon daran erkennen müssen, dass unsere Streitereien aus Anlässen entstanden, an die wir uns nach dem Ende des Streits oft gar nicht mehr erinnern konnten. Der Verstand konnte gar nicht so viele Anlässe erfinden, wie die permanente Feindseligkeit zwischen uns zu erfordern
schien. Bestürzender noch war aber die Dürftigkeit unserer Vorwände zur Versöhnung. Manchmal waren es Worte, Aussprachen, sogar Tränen, aber manchmal war es auch – ah! es widert mich an, nur daran zu denken! – nach den bösesten Worten plötzlich ein stummer Blick, ein Lächeln, Küsse, Umarmungen
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