Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
was hieße das? Sie würden leben und vielleicht
sterben, bevor sie das Ziel erreicht hätten; dann müsste Gott, um das Ziel zu erreichen, neue Menschen erschaffen. Angenommen dagegen, sie wären unsterblich, und angenommen, sie würden das Ziel nach vielen Tausend Jahren erreichen (obwohl es schwerer ist, wenn ein und dieselben Menschen ihre Fehler korrigieren und sich der Vollkommenheit annähern müssen, als wenn eine neue Generation dies tut) – wozu braucht man sie dann noch? Wohin mit ihnen? Nein, so wie es ist, ist es am besten … Aber vielleicht behagt Ihnen diese Darstellung nicht, vielleicht sind Sie Evolutionist 12 ? Auch dann ist das Ergebnis dasselbe. Die höchste Spezies, die der Menschen, darf sich, um sich im Kampf mit anderen Tieren zu behaupten, nicht unendlich vermehren, sie muss sich vielmehr wie ein Bienenschwarm zusammenschließen, wie die Bienen muss sie Geschlechtslose heranziehen, und das heißt, sie muss wiederum nach Enthaltsamkeit streben und keinesfalls nach jenem Entfachen der Wollust, auf das unsere ganze Lebensweise abzielt.»Er schwieg einen Moment.«Die menschliche Rasse wird aussterben? Aber ja! Als könnte daran irgendjemand zweifeln, gleich wie er die Welt betrachtet! Das ist doch so gewiss wie der Tod. Alle kirchlichen Lehren sagen, dass das
Ende der Welt kommen wird, und nach allen wissenschaftlichen Lehren ist es ebenso unvermeidlich. Warum sollte denn nicht auch die moralische Lehre zum selben Ergebnis kommen?»
Danach schwieg er lange, trank noch mehr Tee, rauchte seine Zigarette zu Ende, holte einige neue aus dem Reisesack und legte sie in sein altes, fleckiges Zigarettenetui.
«Ich verstehe, was Sie meinen», sagte ich,«etwas Ähnliches sagen auch die Shaker 13 .»
«Ja, ja, und sie haben ganz recht», sagte er.«Die sexuelle Leidenschaft, egal, wie man sie kaschiert, ist in jedem Fall ein Übel, ein furchtbares Übel, das man bekämpfen muss, statt es wie bei uns zu fördern. Wenn es im Evangelium heißt, ‹wer ein Weib ansieht, ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen›, dann bezieht sich das nicht nur auf die Frauen der anderen, sondern gerade und vor allem auf die eigene Frau.»
XII
«In unserer Welt aber ist es gerade umgekehrt: Als Junggeselle denkt mancher vielleicht noch an Enthaltsamkeit, doch einmal verheiratet,
meint jeder, das sei nun nicht mehr nötig. Dieses Verreisen nach der Hochzeit, diese abgeschiedenen Orte, an die sich die Jungen mit Erlaubnis der Eltern begeben – all das kommt doch einem Freibrief zur Unzucht gleich. Aber das moralische Gesetz rächt sich, wenn man es verletzt. Sosehr ich auch versuchte, mir schöne Flitterwochen zu machen, es wurde nichts daraus. Es war von Anfang bis Ende widerwärtig, beschämend und langweilig. Und dazu kam sehr bald noch eine quälende gedrückte Stimmung. Sehr bald begann das. Ich glaube, schon am dritten oder vierten Tag fand ich meine Frau betrübt vor, ich fragte nach dem Grund und nahm sie in den Arm, da sie sich nach meiner Meinung gar nicht mehr wünschen konnte, sie aber schob meine Hand weg und begann zu weinen. Weswegen? Das konnte sie nicht sagen. Doch sie war traurig, bedrückt. Wahrscheinlich verrieten ihre strapazierten Nerven ihr die Wahrheit darüber, wie widerlich unsere Beziehungen waren, aber sie konnte es nicht aussprechen. Ich bedrängte sie, sie sagte etwas wie, sie vermisse ihre Mutter. Mir schien das nicht wahr zu sein. Ich versuchte, sie zu trösten, sprach aber nicht von ihrer Mutter. Ich begriff nicht, dass ihr einfach schwer ums Herz war und die Mutter nur eine Ausflucht.
Doch sie war sofort beleidigt, weil ich ihre Mutter nicht erwähnt hatte, als würde ich ihr nicht glauben. Sie sagte, ich würde sie nicht lieben, das sehe sie. Ich warf ihr Launenhaftigkeit vor, und plötzlich bekam ihr Gesicht einen völlig anderen Ausdruck, an die Stelle der Traurigkeit trat Gereiztheit, und sie begann mir in den gehässigsten Worten Egoismus und Grausamkeit vorzuwerfen. Ich sah sie an. Ihre Miene drückte vollkommene Kälte und Feindseligkeit, fast Hass gegen mich aus. Ich weiß noch, wie ich erschrak, als ich das sah. ‹Wie? Was ist das?›, dachte ich. ‹Die Liebe, ein Seelenbündnis – und nun so etwas! Das kann doch nicht sein, das ist doch nicht sie!› Ich versuchte, sie zu besänftigen, stieß aber auf eine so unüberwindliche Mauer von kalter, giftiger Feindseligkeit, dass auch mich, ehe ich mich’s versah, der Ärger packte und wir einander eine Menge
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