Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
ein.
«Wie viel Uhr ist es?», fragte er. Ich sah nach, es war zwei Uhr.
«Sind Sie nicht müde?», fragte er.
«Nein, aber Sie sind müde.»
«Ich brauche Luft. Wenn Sie gestatten, gehe ich ein paar Schritte und trinke ein Glas Wasser.»Schwankend lief er durch den Wagen zum Ausgang. Ich saß alleine da, rekapitulierte, was er gesagt hatte, und versank so in Gedanken darüber, dass ich gar nicht bemerkte, wie er durch die andere Tür wieder hereinkam.
XVIII
«Ja, ich kann mich oft schwer beherrschen», begann er.«Ich habe über vieles nachgedacht und sehe vieles jetzt anders, und all das drängt es mich auszusprechen. Nun, wir zogen also in die Stadt. Wenn man unglücklich ist, lebt es sich in der Stadt leichter. In der Stadt kann ein Mensch hundert Jahre leben und nicht merken, dass er schon längst tot und verfault ist. Man hat keine Zeit, sich Klarheit über sich selbst zu verschaffen, alles ist ausgefüllt. Die Geschäfte, die gesellschaftlichen Beziehungen, die Künste, die eigene Gesundheit, die der Kinder, deren Erziehung. Bald muss man die Soundsos empfangen oder zu den Soundsos fahren; bald muss man die Vorstellung der XY sehen, bald das Konzert
von Z hören. In der Stadt gibt es ja zu jedem Zeitpunkt eine, wenn nicht gleich zwei oder drei Berühmtheiten, die man unter keinen Umständen verpassen darf. Bald braucht man selbst oder ein anderes Familienmitglied ärztliche Behandlung, bald muss man sich um Lehrer, Repetitoren und Gouvernanten kümmern, aber das Leben ist dabei leer, ganz und gar leer. So lebten wir nun, und unser Zusammensein schien dadurch weniger schmerzhaft. Außerdem hatten wir in der ersten Zeit eine wunderbare Beschäftigung, nämlich uns in der neuen Stadt, der neuen Wohnung einzurichten, und dazu noch eine zweite Beschäftigung, die darin bestand, aus der Stadt aufs Land zu ziehen und vom Land wieder in die Stadt.
Einen Winter verbrachten wir so, im zweiten Winter aber gab es den nächsten, ganz unauffälligen und scheinbar belanglosen Vorfall, der jedoch alle weiteren Ereignisse nach sich zog. Meine Frau kränkelte, also ordneten die Dreckskerle an, sie solle keine Kinder mehr gebären, und sie verrieten ihr auch, wie. Mir war das zuwider. Ich kämpfte dagegen an, aber sie beharrte in leichtfertigem Starrsinn auf ihrem Standpunkt, und schließlich gab ich nach; die letzte Rechtfertigung für unser schweinisches Leben – die
Kinder – fiel damit weg, und alles wurde noch widerwärtiger.
Ein Bauer oder ein Arbeiter hat zwar Mühe, seine Kinder satt zu bekommen, aber er braucht sie, und darum sind seine ehelichen Beziehungen gerechtfertigt. Wir dagegen, zumal wenn wir schon Kinder haben, brauchen nicht noch weitere Kinder, für uns bedeuten sie nur zusätzliche Sorgen, zusätzliche Ausgaben, eine zusätzliche Aufteilung des Erbes, sie sind eine Last. Unser Schweineleben ist in keiner Weise gerechtfertigt. Entweder schaffen wir uns die Kinder auf unnatürliche Weise vom Hals, oder wir betrachten sie als ein Unglück, als Folge unserer Unvorsicht, was noch widerwärtiger ist. Für uns gibt es keine Rechtfertigung. Doch wir sind moralisch so tief gesunken, dass wir eine solche auch gar nicht mehr für nötig halten. Der größte Teil der heutigen gebildeten Welt frönt dem Laster ohne die geringsten Gewissensbisse.
Und woher sollten die Gewissensbisse auch kommen, wenn ein Gewissen in unserem Alltag gar nicht mehr existiert, oder allenfalls noch in Gestalt der öffentlichen Meinung und des Strafgesetzbuchs. Beides bleibt hier ja unberührt: Vor der Gesellschaft braucht man kein schlechtes Gewissen zu haben, alle tun dasselbe – auch
Marja Petrowna, auch Iwan Sacharytsch. Wozu sollte man schließlich mittellose Kinder in die Welt setzen oder sich das gesellschaftliche Leben verbauen? Und vor dem Strafgesetz braucht man ebenso wenig ein schlechtes Gewissen oder gar Angst zu haben. Ordinäre Mädchen und Soldatenfrauen, ja, die werfen ihre Kinder in Teiche und Brunnen; die muss man einsperren, versteht sich, bei uns dagegen erledigt man derlei frühzeitig und ordentlich.
So lebten wir noch zwei Jahre. Die Methode der Dreckskerle begann ihre Wirkung zu zeigen; meine Frau wurde voller und hübscher, sie blühte auf wie der Sommer in seinen letzten Tagen. Das spürte sie auch und machte sich entsprechend zurecht. Sie entwickelte eine herausfordernde, beunruhigende Schönheit. Eine kraftstrotzende Frau von dreißig Jahren, die keine Kinder gebar, wohlgenährt und überreizt. Ihr
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