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Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
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Anblick weckte Unruhe. Wenn sie zwischen Männern hindurchging, folgten ihr die Blicke. Sie war wie ein wohlgenährtes, fertig angeschirrtes Pferd, das zu lange im Stall gestanden hat und dem man nun die Zügel abnimmt. Zügel gab es für sie nicht, so wie es für neunundneunzig Prozent unserer Frauen keine Zügel gibt. Ich spürte das, und es machte mir Angst.»

XIX
    Plötzlich erhob er sich und setzte sich direkt ans Fenster.«Entschuldigen Sie», sagte er und saß dann etwa drei Minuten lang schweigend da, den Blick nach draußen gerichtet. Schließlich seufzte er schwer und setzte sich wieder mir gegenüber. Sein Gesicht sah jetzt ganz anders aus, in seinen Augen lag etwas Klägliches, und ein seltsames Beinahe-Lächeln kräuselte seine Lippen.«Ich bin etwas müde, aber ich werde weitererzählen. Wir haben noch viel Zeit, es ist ja noch dunkel. Nun denn», begann er wieder, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte,«seit sie keine Kinder mehr zur Welt brachte, war sie fülliger geworden, und die alte Krankheit – das ewige Leiden um die Kinder – ging allmählich vorüber; oder eigentlich ging es gar nicht allmählich vorüber, sondern sie erwachte wie aus einem Rausch, sie kam zu sich und sah die ganze weite Welt mit all ihren Freuden, die weite Welt, die sie vergessen hatte und in der sie nicht zu leben verstand, die sie gar nicht begriff. ‹Nur nichts verpassen! Die Zeit vergeht, man holt sie nicht zurück!› So wird sie wohl gedacht oder eher gefühlt haben, anders konnte sie auch nicht denken und fühlen: Sie war in der Vorstellung erzogen
worden, dass nur eine Sache auf der Welt Beachtung verdiene – die Liebe. Sie hatte geheiratet und einiges von dieser Liebe abbekommen, aber längst nicht das, was man ihr versprochen und was sie sich erwartet hatte; dazu kamen noch so viele Enttäuschungen und Leiden und obendrein eine unerwartete Qual – die Kinder! Diese Qual hatte sie erschöpft. Aber nun hatte sie dank der dienstbeflissenen Ärzte erfahren, dass es auch ohne Kinder ging. Sie freute sich, probierte es und lebte wieder auf – für das Einzige, was sie kannte, für die Liebe. Doch ein Ehemann, der ihr durch seine Eifersucht und Gehässigkeit zuwider geworden war, das war nicht mehr die richtige Liebe. Sie fing an, sich eine andere, unberührte, funkelnagelneue Liebe vorzustellen, oder zumindest glaubte ich das von ihr. Sie begann, sich umzusehen, als würde sie auf etwas warten. Ich bemerkte das und war natürlich alarmiert. Wenn sie sich wie immer auf dem Umweg über andere mit mir unterhielt, also einem Dritten etwas sagte, sich dabei aber eigentlich an mich wandte, geschah es jetzt auf Schritt und Tritt, dass sie offen aussprach – ohne daran zu denken, dass sie eine Stunde zuvor noch das Gegenteil gesagt hatte -, dass sie also halb im Scherz die Ansicht aussprach, Mutterliebe sei eine Fiktion, und es
lohne nicht, sich für die Kinder aufzuopfern, solange man jung sei und das Leben genießen könne. Sie beschäftigte sich weniger mit den Kindern und verzweifelte weniger daran als früher, stattdessen widmete sie immer mehr Zeit sich selbst, ihrem Äußeren – obwohl sie das zu verbergen versuchte -, ihren Vergnügungen und sogar ihrer Bildung. Mit Begeisterung wandte sie sich dem Klavierspiel wieder zu, das sie zuvor ganz aufgegeben hatte. Und eben damit fing alles an.»
    Wieder sah er müde aus dem Fenster, doch gleich darauf schien er sich zu überwinden und sprach weiter:«Ja, denn dann tauchte dieser Mensch auf.»Er stockte und machte mit der Nase zweimal sein eigentümliches Geräusch.
    Ich sah, dass es ihm entsetzlich schwerfiel, den Namen des Betreffenden zu nennen, an ihn zurückzudenken, von ihm zu sprechen. Doch er überwand sich, und nachdem er die Barriere, die ihm den Weg versperrte, gleichsam durchbrochen hatte, fuhr er entschlossen fort:«Eine armselige Figur war er in meinen Augen, nach meinem Urteil. Nicht wegen der Rolle, die er in meinem Leben gespielt hat, sondern weil er wirklich so war. Im Übrigen bewies die Tatsache, dass er nichts taugte, nur, wie unzurechnungsfähig
meine Frau war. Wenn nicht er, dann wäre es eben ein anderer gewesen, es musste so kommen. »Wieder verstummte er.«Nun ja, er war Musiker, Geiger; kein professioneller, sondern halb Berufsmusiker, halb Amateur.
    Sein Vater war Gutsbesitzer, ein Nachbar meines Vaters. Er, sein Vater, hatte sein Vermögen verloren, die Kinder aber – es waren drei Jungen – machten alle ihren Weg; nur einer,

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