Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
zurückhalten, um auszureden, um etwas zu beweisen, und fasse sie am Arm. Sie gibt vor, ich hätte ihr wehgetan, und schreit: ‹Kinder, euer Vater schlägt mich!› Ich schreie: ‹Lüg nicht!› Darauf sie: ‹Und das ist nicht das erste Mal!›, oder etwas in der Art. Die Kinder stürzen zu ihr. Sie beruhigt sie. Ich sage: ‹Spiel kein Theater!› Sie sagt: ‹Für dich ist alles Theater; du wärst imstande, einen Menschen umzubringen und dann zu sagen, er spielt nur Theater. Ja, jetzt begreife ich dich. Das ist genau, was du willst!› – ‹Verrecken sollst du!›, schreie ich. Ich weiß noch, wie entsetzt ich war über diese furchtbaren Worte. Nie hätte ich gedacht, dass ich fähig wäre, etwas so Furchtbares, so Grobes zu sagen, ich war verblüfft, dass mir das über die Lippen kommen konnte. Ich schreie also diese furchtbaren Worte, laufe in mein Arbeitszimmer, setze mich hin und rauche. Da höre ich sie draußen im Vorzimmer, offenbar im Aufbruch. Ich frage sie, wohin. Sie antwortet nicht. ‹Zum Teufel mit ihr›, denke ich, gehe zurück ins Arbeitszimmer, lege mich wieder hin und rauche. Tausend verschiedene Pläne kommen mir in den Sinn, wie ich es ihr heimzahlen und sie loswerden oder wie ich alles
wieder in Ordnung bringen, es ungeschehen machen könnte. An all das denke ich, und dabei rauche, rauche, rauche ich. Ich stelle mir vor, wie ich vor ihr fliehen, mich verstecken und nach Amerika auswandern könnte. Ich fange sogar an, mir auszumalen, ich wäre sie schon los, und wie wunderbar das wäre, wie ich mich mit einer anderen, wunderbaren Frau zusammentun würde, einer ganz neuen. Loswerden kann ich sie, indem sie stirbt oder indem ich mich scheiden lasse, und so überlege ich, wie ich das anstelle. Ich sehe, dass ich durcheinanderkomme, dass ich über das Falsche nachdenke, und um nicht zu sehen, dass ich an das Falsche denke, rauche ich.
Unterdessen geht im Haus das Leben weiter. Die Gouvernante kommt und fragt: ‹Wo ist Madame? Wann kommt sie zurück?› Der Diener fragt, ob er den Tee servieren soll. Ich gehe ins Speisezimmer; die Kinder, besonders die schon recht verständige Älteste, Lisa, sehen mich fragend und misstrauisch an. Schweigend trinken wir Tee. Sie ist immer noch nicht zurück. Der ganze Abend vergeht, sie kommt nicht, und in meinem Herzen wechseln sich zwei Gefühle ab: Wut auf sie, weil sie mich und die Kinder quält mit ihrer Abwesenheit, die doch ohnehin damit enden wird, dass sie nach Hause zurückkommt,
und Angst, sie könnte nicht zurückkommen, könnte sich etwas antun. Ich würde sie ja holen. Aber wo soll ich nach ihr suchen? Bei ihrer Schwester? Aber hinfahren und nach ihr fragen sähe dumm aus. Ach was, wenn sie mich quälen will, soll sie sich auch selbst quälen. Darauf wartet sie doch nur. Und beim nächsten Mal wird es dann noch schlimmer. Aber was, wenn sie nicht bei ihrer Schwester ist, sondern sich etwas antut oder schon angetan hat? … Elf Uhr, zwölf Uhr, ein Uhr nachts. Ich gehe nicht ins Schlafzimmer, allein im Bett zu liegen und zu warten wäre dumm; ich lege mich gar nicht hin. Ich will mich irgendwie beschäftigen, Briefe schreiben, lesen; nichts davon gelingt mir. Ich sitze allein in meinem Arbeitszimmer, leide, bin wütend und lausche. Drei Uhr, vier Uhr – sie ist immer noch nicht da. Gegen Morgen schlafe ich ein. Ich wache auf – sie ist nicht da.
Alles im Haus geht seinen Gang, aber alle sind ratlos und sehen mich fragend und vorwurfsvoll an, weil sie annehmen, dass ich an all dem schuld bin. Und in mir tobt weiter der Kampf zwischen der Wut, weil sie mich so quält, und der Sorge um sie.
Gegen elf kommt als Abgesandte ihre Schwester. Es beginnt das übliche Hin und Her: ‹Sie ist
in einem entsetzlichen Zustand. Was bedeutet denn das!› – ‹Aber es ist doch gar nichts passiert.› Ich rede von ihrem unmöglichen Charakter und davon, dass ich unschuldig bin.
‹Aber so kann es doch nicht bleiben›, sagt ihre Schwester.
‹Das ist allein ihre Sache, nicht meine›, sage ich. ‹Ich tue nicht den ersten Schritt. Wenn es sein muss, dann trennen wir uns eben.›
Meine Schwägerin zieht mit leeren Händen ab. Im Gespräch mit ihr habe ich kühn behauptet, ich würde nicht den ersten Schritt tun, aber nun, da ich aus dem Zimmer trete und die armen verängstigten Kinder sehe, bin ich doch dazu bereit. Ich würde gern den ersten Schritt tun, aber ich weiß nicht, wie. Wieder gehe ich auf und ab, rauche, trinke zum Frühstück Wodka und Wein
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