Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
diesen Händchen, Füßchen, dem ganzen kleinen Körper, all die Lust, die vom Kind ausgeht, ist nicht so groß wie das Leid, das die Mütter durchmachen – nicht nur, wenn wirklich ein Kind krank wird und stirbt, sondern allein schon vor Angst, dass das geschehen könnte. Wenn sie Vorund Nachteile abwägen, ist Kinder zu haben von Nachteil, also nicht wünschenswert. Das sagen sie bedenkenlos und freiheraus, denn sie glauben, dass ihre Gefühle von der Liebe zu den Kindern herrühren, von einem guten, achtenswerten Gefühl, auf das sie stolz sind. Sie merken nicht, dass sie mit dieser Denkweise die Liebe glatt negieren und nur ihren Egoismus unter Beweis stellen. Die Lust am reizenden Anblick des Kindes kann für sie nicht das Leiden an der Angst um es aufwiegen, und darum wollen sie das Kind, das sie lieben würden, gar nicht erst haben. Sie opfern nicht sich selbst für ein geliebtes Wesen, sondern das zukünftig geliebte Wesen für sich selbst.
Es ist klar, dass das keine Liebe ist, sondern Egoismus. Dennoch zögert man, diese Mütter der wohlhabenden Familien für ihren Egoismus zu verurteilen, wenn man bedenkt, was sie wegen
der Gesundheit ihrer Kinder alles durchmachen – und auch daran sind in unseren vornehmen Kreisen wieder die Ärzte schuld. Wenn ich mich an das Leben und den Zustand meiner Frau in jener Zeit erinnere, als die ersten drei, vier Kinder geboren waren und sie ganz in ihnen aufging, graut mir heute noch. Es war schier unerträglich. Ein ständiges Auf und Ab von Gefahr, Rettung, neuer Gefahr, neuen verzweifelten Anstrengungen und neuer Rettung – wir lebten permanent wie auf einem sinkenden Schiff. Manchmal schien mir, als wäre das Absicht, so als würde sie ihre Sorge um die Kinder nur spielen, um die Oberhand über mich zu gewinnen. Zu verlockend war das, es entschied alle Fragen zu ihren Gunsten. Mir schien es manchmal, als sage und tue sie alles, was sie in diesen Momenten sagte und tat, mit Vorsatz. Aber nein, sie selbst litt furchtbar, unentwegt quälte sie sich wegen der Kinder, wegen ihrer Gesundheit und ihrer Krankheiten. Für sie war das eine Folter, und für mich ebenso. Dass sie litt, war unvermeidlich. Denn der Drang zu den Kindern, der tierische Trieb, sie zu nähren, zu verwöhnen, zu schützen, war bei ihr wie bei den meisten Frauen zwar vorhanden, aber etwas anderes Tierisches fehlte ihr: Sie war nicht wie die Tiere frei von Einbildungskraft
und ohne Verstand. Eine Henne hat keine Angst davor, was ihrem Küken alles zustoßen könnte, sie kennt die vielen Krankheiten nicht, die es bekommen kann, und sie kennt auch die vielen Mittel nicht, mit denen die Menschen glauben, Krankheit und Tod abwenden zu können. Für sie, für die Henne, sind Kinder keine Qual. Was sie für ihre Küken tut, tut sie selbstverständlich und freudig; ihre Kinder sind ihr eine Freude. Wenn ein Küken krank wird, dann sind ihre Sorgen klar umrissen: Sie wärmt und füttert es. Und indem sie das tut, weiß sie, dass sie alles Nötige tut. Wenn ein Küken eingeht, fragt sie sich nicht, warum es gestorben ist und wo es jetzt sein mag, sondern sie gackert ein wenig, dann hört sie wieder auf und lebt weiter wie zuvor. Bei unseren unglücklichen Frauen aber und auch bei meiner Frau war es ganz anders. Nicht nur über die Behandlung von Krankheiten, auch über die richtige Erziehung hörte und las sie eine Unzahl immer wieder anderer Regeln, die ihr von allen Seiten zugetragen wurden. Warum die Kinder nicht dies, sondern jenes essen oder trinken sollten, oder doch lieber etwas Drittes; welche Kleider, Bäder, Schlafenszeiten, wie viel Spaziergänge und welche Art Luft ihnen guttun würden – zu all dem erfuhren wir und erfuhr
in erster Linie sie jede Woche neue Regeln. Als hätten die Menschen gestern erst angefangen, Kinder zu bekommen. Und hatte ein Kind einmal nicht das Richtige gegessen oder war nicht auf die richtige Weise, zur richtigen Zeit gebadet worden und dann krank geworden, dann war sie schuld, sie hatte etwas falsch gemacht.
So war es in gesunden Zeiten. Schon das war eine Qual. Wenn aber ein Kind ernsthaft krank wurde, war alles vorbei. Die reinste Hölle. Allgemein nimmt man ja an, dass man Krankheiten heilen kann, dass es dafür eine Wissenschaft gibt und bestimmte Leute, die etwas davon verstehen, nämlich die Ärzte. Nicht alle verstehen sie etwas davon, aber die besten unter ihnen. Wenn man nun ein krankes Kind hat, muss man folglich diesen besten finden, er ist die Rettung, und
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