Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld

Titel: Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sofja Lew u. Tolstaja Tolstoi
Vom Netzwerk:
er nämlich, der Jüngste, kam nach Paris zu seiner Patin. Dort schickte man ihn aufs Konservatorium, weil er ein Talent für die Musik hatte; er absolvierte es als Geiger und spielte Konzerte. Er war ein …»Offensichtlich wollte er etwas Schlechtes von ihm sagen, beherrschte sich aber und sagte stattdessen schnell:«Nun, wie er dort gelebt hatte, weiß ich nicht, ich weiß nur, dass er in jenem Jahr in Russland aufgetaucht ist, und zwar bei mir.
    Feuchte Mandelaugen, rote, lächelnde Lippen, ein pomadisierter Schnurrbart, die Frisur nach der letzten Mode, ein nichtssagend-hübsches Gesicht – er war das, was die Frauen einen schönen Mann nennen, von schwachem, aber nicht unansehnlichem Körperbau, mit einem besonders entwickelten Hinterteil, wie bei einer Frau oder angeblich bei den Hottentotten.
Die sollen ja auch musikalisch sein. Er wurde schnell vertraulich, wann immer es ging, hatte aber ein feines Gespür und war bereit, beim geringsten Widerstand sofort zurückzuweichen, er achtete auf äußere Würde, und er hatte diese besondere Pariser Note, die geknöpften Stiefel, die auffälligen bunten Krawatten, all das, was Ausländer sich in Paris aneignen und was durch seine Besonderheit und Neuheit auf Frauen immer wirkt. In den Umgangsformen eine gewollte, äußere Fröhlichkeit. Wissen Sie, diese Art, von allem in Andeutungen und Bruchstücken zu reden, als wüsste der andere das alles schon, hätte es im Kopf und könnte es selbst ergänzen.
    Mit diesem Menschen und seiner Musik hat alles angefangen. Vor Gericht haben sie es so hingestellt, als sei das Ganze aus Eifersucht geschehen. Von wegen! Oder vielmehr: So ist es, und so ist es auch nicht. Das Gericht hat einfach entschieden, ich hätte als betrogener Ehemann getötet, um meine geschändete Ehre zu verteidigen (so nennen sie das dort). Deshalb hat man mich auch freigesprochen. Ich habe versucht, ihnen den Sinn der Sache zu erklären, aber sie haben das so aufgefasst, als wollte ich nur die Ehre meiner Frau wiederherstellen.
    Ihre Beziehung zu diesem Musiker, welcher
Art sie auch sein mochte – für mich hatte das keine Bedeutung, und für sie genauso wenig. Von Bedeutung war das, was ich Ihnen erzählt habe, nämlich dass ich ein Schwein war. Das Ganze ist deshalb passiert, weil zwischen uns dieser furchtbare Abgrund klaffte, diese furchtbare Spannung des gegenseitigen Hasses, bei dem der erstbeste Anlass ausreichte, um eine Krise hervorzurufen. Unsere Streitereien der letzten Zeit hatten etwas Furchterregendes, und sie wirkten umso verstörender, als sie mit ebenso heftiger, triebhafter Leidenschaftlichkeit abwechselten.
    Wäre er nicht aufgetaucht, dann ein anderer. Wäre der Vorwand der Eifersucht nicht gewesen, es hätte sich ein anderer gefunden. Ich bleibe dabei, dass jeder Ehemann, der lebt, wie ich gelebt habe, nur auf Abwege kommen oder sich trennen kann, sofern er nicht sich oder seine Frau umbringt, wie ich es getan habe. Wenn es irgendwo nicht so ist, dann ist das eine ganz seltene Ausnahme. Ich selbst stand ja, bevor es mit mir geendet hat, wie es geendet hat, mehrmals am Rand des Selbstmords, und auch sie hatte schon versucht, sich zu vergiften.»

XX
    «Ja, auch das hatte es gegeben, und es lag noch nicht lange zurück. Damals lebten wir gerade in einer Art Waffenstillstand und hatten keinen Grund, diesen zu brechen; eines Tages jedoch begannen wir ein Gespräch über irgendeinen Hund, der bei einer Ausstellung eine Medaille bekommen hatte, wie ich sagte. ‹Keine Medaille, sondern eine lobende Erwähnung›, behauptet sie. Es beginnt ein Wortgefecht. Es beginnt das übliche Springen von Gegenstand zu Gegenstand, die gegenseitigen Vorhaltungen: ‹Natürlich, das ist ja nichts Neues, so ist es immer: Du hast gesagt …› – ‹Das habe ich nicht gesagt.› – ‹Soll das heißen, ich lüge?› Ich spüre, gleich beginnt jener furchtbare Streit, bei dem ich versucht sein werde, mich oder sie umzubringen. Ich weiß, dass er gleich beginnt; ich fürchte ihn wie das Feuer und versuche mich zu beherrschen, aber die Wut hat mein ganzes Wesen erfasst. Bei ihr ist es genauso oder noch schlimmer, sie dreht mir jedes meiner Worte im Mund um und gibt ihm einen falschen Sinn; jedes ihrer Worte aber trieft vor Gift; wo immer sie weiß, dass es mir am meisten wehtut, sticht sie zu. Je länger der Streit dauert, desto schlimmer wird
er. Ich schreie etwas wie ‹Sei still!› – sie springt auf, rennt hinaus und ins Kinderzimmer. Ich will sie

Weitere Kostenlose Bücher