Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
drei Jahren hatte sich auf beiden Seiten stillschweigend die Überzeugung durchgesetzt, dass wir außerstande waren, einander zu verstehen und im Einklang miteinander zu leben. Wir versuchten gar nicht mehr, uns auszusprechen. Noch in den einfachsten Dingen, besonders in allem, was die Kinder betraf, blieb jeder von uns unveränderlich bei seiner eigenen Meinung. Dabei sehe ich jetzt, dass mir meine Meinungen keineswegs so am Herzen lagen, dass ich nicht davon hätte abrücken können; aber da sie das Gegenteil vertrat, hätte nachgeben bedeutet, ihr nachzugeben. Das konnte ich nicht. Und sie konnte es umgekehrt auch nicht. Wahrscheinlich fühlte sie sich mir gegenüber immer völlig im Recht; ich wiederum hielt mich im Vergleich zu ihr geradezu für einen Heiligen. Wenn wir allein miteinander waren, blieb uns kaum etwas übrig, als zu schweigen, oder aber wir führten Gespräche,
wie sie wohl auch Tiere führen könnten: ‹Wie viel Uhr ist es? Zeit, schlafen zu gehen. Was gibt es heute Mittag zu essen? Wohin fahren wir? Was steht in der Zeitung? Lass den Arzt rufen, Mascha hat Halsschmerzen.› Sobald wir auch nur um Haaresbreite von diesem äußerst eingeengten Themenkreis abwichen, flackerte Gereiztheit auf. Scharmützel und Hassausbrüche gab es wegen des Kaffees, des Tischtuchs, der Kutsche, wegen eines Spielzugs beim Wint 21 – lauter Dingen, die weder für sie noch für mich irgendeine Bedeutung hatten. In mir kochte oft ein fürchterlicher Hass gegen sie! Manchmal sah ich ihr zu, wie sie Tee einschenkte, mit dem Fuß wippte oder den Löffel zum Mund führte und dabei schmatzte oder geräuschvoll eine Flüssigkeit aufschlürfte, und ich hasste sie dafür wie für das schlimmste Verbrechen. Dabei merkte ich nicht, dass die Phasen meiner Wut sich in einem ganz bestimmten Rhythmus mit Phasen dessen abwechselten, was wir Liebe nannten. Auf eine Phase der Liebe folgte immer eine Phase der Wut, und je kraftvoller die Phase der Liebe ausfiel, desto länger dauerte die der Wut; wenn dagegen die Liebe schwächer war, hielt auch die Wut nur kurz an. Damals begriffen wir nicht, dass diese Liebe und diese Wut nur zwei Seiten
ein und desselben primitiven Gefühls waren. Es wäre entsetzlich gewesen, so zu leben, wenn uns unsere Lage bewusst gewesen wäre, aber wir begriffen und sahen sie nicht. Darin liegt eben das Glück und zugleich das Elend des Menschen, dass er sich in seinem falschen Leben selbst so benebeln kann, dass er nicht sieht, wie fatal seine Lage ist. So machten auch wir es. Meine Frau versuchte sich zu vergessen, indem sie sich angestrengt und immer in Eile um den Haushalt, die Einrichtung, um ihre und der Kinder Kleider, um den Unterricht und die Gesundheit der Kinder kümmerte. Und ich hatte meine eigene Art des Rauschs – den Rausch der Arbeit, der Jagd, des Kartenspiels. Beide waren wir ständig beschäftigt. Beide fühlten wir, dass wir umso boshafter gegeneinander sein konnten, je beschäftigter wir waren. ‹Ja, du hast leicht Grimassen schneiden›, sagte ich im Stillen zu ihr, ‹dabei warst du es, die mich die ganze Nacht mit Szenen gequält hat, und ich habe heute Sitzung.› – ‹Du hast es gut›, dachte sie nicht nur, sondern sagte sie auch, ‹mich hat das Kind die ganze Nacht nicht schlafen lassen.›
So lebten wir in dauerndem Nebel und sahen nicht, in welcher Lage wir waren. Und wenn nicht passiert wäre, was passiert ist, hätte ich bis
ins hohe Alter so weitergelebt, und bei meinem Tod hätte ich gedacht, dass ich ein gutes Leben hatte, kein außergewöhnlich gutes, aber auch kein schlechtes, ein Leben wie alle; ich hätte nie begriffen, in welchem Abgrund von Unglück, in welcher schändlichen Lüge ich feststeckte.
Wir waren zwei aneinandergekettete Sträflinge, die einander hassten und das Leben vergifteten, dies aber nicht wahrhaben wollten. Ich wusste damals noch nicht, dass neunundneunzig Prozent aller Ehepaare in derselben Hölle leben wie ich und dass es anders gar nicht sein kann. Nein, damals wusste ich das nicht, weder von den anderen noch von mir selbst.
Aber ist es nicht erstaunlich, was für Zufälle es sogar im falschen, nicht nur im richtigen Leben gibt! Just wenn die Eltern einander nicht mehr ertragen können, erfordert die Erziehung der Kinder eine städtische Umgebung. Und schon muss man in die Stadt ziehen.»
Er verstummte und machte zweimal sein seltsames Geräusch, das inzwischen vollends einem unterdrückten Schluchzen glich. Wir fuhren in einen Bahnhof
Weitere Kostenlose Bücher