Kreutzersonate / Eine Frage der Schuld
damit ist auch das Kind gerettet; wenn man aber an diesen Arzt nicht herankommt oder nicht am selben Ort wohnt wie er, dann ist das Kind verloren. Daran glaubte nicht nur sie allein, daran glaubten alle Frauen in ihrer Umgebung, von allen Seiten hörte sie nichts anderes: Zwei Kinder von Jekaterina Semjonowna waren gestorben, weil sie Iwan Sacharytsch nicht rechtzeitig gerufen hatten, die Älteste von Marja Iwanowna dagegen konnte Iwan Sacharytsch retten; die Petrows
hatten sich auf ärztlichen Rat rechtzeitig in separaten Hotels eingemietet und überlebt, während andere dem Rat nicht gefolgt waren, und die Kinder waren gestorben. Die Soundso hatte ein schwächliches Kind, aber nachdem sie auf den Rat des Arztes in den Süden gezogen waren, konnten sie es retten. Wie sollte meine Frau sich da nicht tagaus, tagein quälen und sorgen, wenn das Leben ihrer Kinder, mit denen sie instinktiv verbunden war, davon abhing, ob sie rechtzeitig erfuhr, was Iwan Sacharytsch sagen würde. Was aber Iwan Sacharytsch sagen würde, wusste niemand, am wenigsten er selbst, denn er wusste genau, dass er nichts wusste und nichts tun konnte, er lavierte nur aufs Geratewohl herum, damit ja keine Zweifel daran aufkamen, dass er etwas von der Sache verstand. Wäre sie ganz und gar Tier gewesen, dann hätte sie sich nicht gequält; wäre sie ganz und gar Mensch gewesen, dann hätte sie den Glauben an Gott gehabt und hätte geredet und gedacht wie die gläubigen Bauernweiber: ‹Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen, Gottes Willen entkommt man nicht.› Sie wäre überzeugt gewesen, dass Leben und Tod ihrer Kinder, wie überhaupt aller Menschen, nicht in menschlicher, sondern allein in Gottes Hand liegen, und deshalb hätte sie sich nicht mit
der Vorstellung gequält, sie hätte Krankheit und Tod ihrer Kinder abwenden können, dies aber versäumt. Tatsächlich aber sah sie es so: In ihrer Obhut befanden sich die zartesten, schwächsten, allem möglichen Unheil ausgesetzten Wesen. Diesen Wesen fühlte sie sich leidenschaftlich, instinktiv verbunden. Doch diese Wesen waren ihr zwar anvertraut, die Mittel, derer es bedurfte, um sie am Leben zu erhalten, waren aber nicht bekannt – die Einzigen, die sie kannten, waren wildfremde Menschen, deren Dienste und Ratschläge man nur mit viel Geld erkaufen konnte, und auch das nicht immer.
So war das ganze Leben mit den Kindern für meine Frau, und demnach auch für mich, nicht Freude, sondern Qual. Wie konnte es anders sein? Sie quälte sich unentwegt. Oft hatten wir uns nach irgendeiner Eifersuchtsszene oder einem Streit gerade erst beruhigt und wollten einfach leben, lesen, nachdenken; gerade nahmen wir irgendetwas in Angriff, da kam die Nachricht, dass Wassja erbrochen, Mascha Blut im Stuhl oder Andrjuscha Ausschlag hatte, und schon war es vorbei mit dem ruhigen Leben. Schnell, wohin, zu welchen Ärzten, wohin in Quarantäne? Klistiere, Fiebermessen, Mixturen, Ärzte. Kaum war das eine vorüber, fing das
nächste an. Ein geregeltes, zuverlässiges Familienleben gab es nicht. Stattdessen, wie gesagt, ein ständiges Retten vor eingebildeten und wirklichen Gefahren. So ist es in den meisten Familien heute. In meiner Familie war es nur besonders krass. Meine Frau war eine liebevolle und leichtgläubige Mutter.
Die Kinder machten unser Leben also nicht besser, sie vergifteten es vielmehr. Zudem waren sie uns auch ein neuer Anlass zum Zwist. Seit die Kinder auf der Welt waren und je älter sie wurden, desto häufiger waren sie selbst sowohl Mittel als auch Gegenstand des Zwists zwischen uns. Ja, sie wurden regelrecht zur Waffe im Kampf: Wir schlugen uns gewissermaßen mit Hilfe der Kinder. Jeder hatte seine Lieblingswaffe, das Kind, mit dem er am liebsten zuschlug – für mich war das meist Wassja, für sie war es Lisa. Dazu kam noch, dass die Kinder, als sie heranwuchsen und ihr Charakter sich stärker herausbildete, zu Verbündeten wurden, die wir auf unsere Seite zogen. Die Ärmsten litten furchtbar darunter, aber wir hatten in unserem Dauerkrieg anderes zu tun, als an sie zu denken. Das Mädchen stand auf meiner Seite, der älteste Junge dagegen, der meiner Frau ähnelte und ihr Liebling war, war mir oft verhasst.»
XVII
«So lebten wir also. Unser Verhältnis wurde immer feindseliger. Am Ende führten nicht mehr Unstimmigkeiten zu Feindseligkeit, sondern Feindseligkeit zu Unstimmigkeiten: Egal, was sie sagte, ich war von vornherein anderer Meinung, und bei ihr verhielt es sich genauso. Nach
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