Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kreuzberg

Kreuzberg

Titel: Kreuzberg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver G. Wachlin
Vom Netzwerk:
schlägt sie so an der Tischkante auf, dass der Korken in hohem Bogen
wegfliegt. Bekümmert starre ich auf meinen Küchentisch. Die Kanten sind
abgeplatzt. Black Tarzan scheint hier schon einige Biere getrunken zu haben.
    »Hören Sie,
Boy …«
    Um mich zu
entspannen, setze ich den Hut ab und höre Melanies Schrei: »Papa! Was ist mit
deinen Haaren?«
    Boy grinst.
»Dad ist unter die Mönche gegangen, right ?«
    »N-nein,
das war ein Arbeitsunfall«, stammele ich und setze den Hut schnell wieder auf.
»Halb so wild.«
    »Warte, ich
hab was Besseres!« Melanie rennt wieder aus der Küche. Man hört, wie sie in
ihrem Zimmer hektisch Schranktüren auf- und zuschlägt und irgendetwas sucht.
    Boy lacht
mich an. Ich weiß nicht, ob er unsicher ist, ich bin es jedenfalls. Und ich
habe das Gefühl, irgendwas sagen zu müssen.
    »Nun, ähm,
Boy«, beginne ich umständlich, »woher kommen Sie eigentlich?«
    »Aus der
Bülowstraße«, antwortet er.
    »Ah«, mache
ich. Ich hatte eigentlich so was wie Burundi oder Jamaika erwartet, aber gut.
Dann eben die Bülowstraße.
    »Er wohnt
da in einer WG mit lauter Musikern.« Melanie ist zurück und gibt mir eine
kleine schwarze Kippa, auf die ein Davidstern aus weißem Garn gestickt ist.
»Hier! Sieht besser aus als dein oller Hut.«
    »Ja, aber
ich bin doch kein Jude«, zögere ich.
    »Du bist
auch kein Mönch.« Schon hat mir Boy den Hut wieder abgenommen und stattdessen
die Kippa auf die Glatze gesetzt. »Passt haargenau. Shalom , Dad!« Er hebt seine
Flasche, trinkt.
    »Shalom«, wiederhole ich mit schiefem Lächeln und wende mich an Melanie.
»Woher hast du denn diese Kippa?«
    »Schulausflug«,
antwortet sie und winkt ab. »Wir mussten den Jüdischen Friedhof in Weißensee
angucken. Von wegen Holocaust und so. Berlins jüdische Vergangenheit. Die
lassen die Jungs aber nicht ohne Kopfbedeckung auf den Hof. Also haben sie die
Dinger verteilt.«
    »Du bist
kein Junge.«
    »Nee.«
Melanie lacht verlegen. »Ich fand die Dinger einfach cool. Ich hab’s geklaut«,
gibt sie zu. »Hat ja keiner gemerkt.«
    Na toll.
Wären wir jetzt allein, würde ich ihr erst mal was erzählen. Von wegen die
Jüdische Gemeinde beklauen und so. Die haben genug unter uns Deutschen
gelitten. Aber ich lasse es, weil ich sie nicht vor diesem … vor ihrem
Freund brüskieren will.
    »Dann sind
Sie also Musiker?«, hake ich nach.
    »Nur
nebenher«, winkt er ab, »ich trommle ein bisschen.«
    Passt,
denke ich. »Kongas, nehme ich an.«
    »Schlagzeug«,
erklärt er, »wir sind ’ne Rockband.«
    »So wie die
Ramones?«
    »Yes.«
    »Eigentlich
will er studieren«, sagt Melanie.
    »Wirklich?
Was denn?«
    »Astrophysik.«
Boy beugt sich vor. »Faust war gestern, Dad. Nicht was die Erde im Innersten
zusammenhält ist interessant, you know ? Sondern das Universum,
Raumzeit, Stringtheorie. Schon mal überlegt, was mit so einem String passiert,
wenn er auf ein schwarzes Loch trifft?«
    Nicht
wirklich.
    »Natürlich
kann auch ein String nicht entkommen. Nichts, was in ein schwarzes Loch gerät,
kommt da jemals wieder raus.« Boy kommt sichtlich in Fahrt. »Aber wie soll das
gehen mit dem String? Bleiben zwei freie Enden übrig? Das ist total irre, you know ,
das geht an die Grenzen der Physik. Man muss sich das wie Spaghetti vorstellen,
die total durcheinandergewirbelt werden, ohne dass sich die Masse des schwarzen
Lochs verändert. Krass, Mann!«
    »Yoh man «,
nicke ich.
    »Das
Universum ist ein sehr komplexes Chaos«, sagt Boy würdevoll. »Es steckt
irgendein System dahinter, da bin ich mir sicher.«
    »Und das
wollen Sie erforschen?«
    »Das muss
ich erforschen, Dad.« Boy kratzt sich nachdenklich am Kinn. »Alles andere macht
keinen Sinn.« Er trinkt sein Bier aus und erhebt sich. »Yoh, ich muss dann
mal!« Er reicht mir seine Pranke. »War nett, Dad.«
    »Mhm«,
mache ich und sehe zu, wie Melanie ihn zur Tür bringt. Dort knutschen sie noch
eine Weile herum, und ich stelle mir vor, wie dieser Riese meine kleine Tochter
in sich hineinsaugt. Wie das schwarze Loch den Spaghetti, sozusagen.
Fffflupp – und sie ist weg. In ihm verschwunden. Doch dann klappt die
Wohnungstür, und Melanie kommt, sehnsüchtig seufzend, wieder in die Küche
zurück.
    »Habe ich
ihn vertrieben?«
    »Nö«, macht
sie. »Boy hat noch ’n Gig heute Abend. Im Trash.« Sie nimmt sich ebenfalls ein
Bier. »Ich vermisse ihn schon jetzt.«
    »Also, äh,
Melanie …« Nervös zünde ich mir eine Zigarette an. »Dieser Boy scheint mir
ja ein

Weitere Kostenlose Bücher