Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
der Köhlerhütte. Sie schwelgte bald in dem Genuss, einen vollständig faszinierten Zuhörer zu haben. Die von einem grauen Schleier umwölkten Augen des Paters funkelten auf, als sie die Pergamente beschrieb, und fast meinte sie, er könne doch wieder sehen.
»Das ist ja unglaublich, Toni. Unglaublich! Ich bin sicher, du hast einen Teil der Handschriften aus dem Domschatz gefunden. Ach, was kann man nur tun, um sie zu retten?«
»Ich weiß nicht. Sehen Sie, ich könnte noch nicht einmal die Hütte wiederfinden. Was soll’s auch! Die Einbände waren sowieso abgerissen. Das Gold ist vermutlich bereits lange eingeschmolzen und die Edelsteine verhökert.«
»Kind! Nicht die Einbände, so kostbar sie wohl waren, machen den Wert dieser Handschriften aus. Es sind wichtige Aufzeichnungen, von Menschen, die vor vielen hundert Jahren gelebt haben. Die uns ihr Wissen und ihre Gedanken darin übermittelt haben. Zeugnisse ihres Glauben und ihres Lebens. Das ist unwiederbringlich, das sind unschätzbare Kostbarkeiten.«
»Mh.« Toni rieb sich skeptisch die Nase. »Sie waren hübsch anzusehen, die Bilder. Aber manches, fand ich, war einfach nur unleserliches Gekritzel.«
»Für dich vielleicht. Für jene, die die alten Schriften studiert haben, nicht.«
»Aber das werden doch nicht die einzigen Bücher darüber sein?«
»Doch, Toni, das sind sie. Damals kannte man den Buchdruck noch nicht. Jede Seite wurde mit der Hand geschrieben. Schön geschrieben!« Da Pater Emanuel wusste, wie ungern Toni sich in Schönschrift übte, hatte diese Bemerkung die gewünschte Wirkung.
»Oje!«
»Ja, oje.«
»Ich kann ja noch mal versuchen, die Köhlerhütte zu finden, wenn wir zurückmarschieren. Ich denke, es ist bald so weit, jetzt, wo der Landgraf das Land hier offiziell in Besitz genommen hat.«
Ein wenig betrübt über diese Aussicht streichelte Toni das Buch, in dem sie gerade lasen. Sie hatte eine schöne Zeit hier in Arnsberg verbracht und den alten Pater aufrichtig lieb gewonnen.
»Ja, ich glaube, du wirst bald zurückkehren. Sei nicht traurig, Toni. Ich werde bestimmt in Kürze Antwort von meinem Neffen haben, und dann verlasse ich diesen Ort ebenfalls.«
Es war im Mai so weit, sie rüsteten sich zum Aufbruch. Lichtes Grün überzog die Bäume und Sträucher, Frühlingsblumen entfalteten ihre Pracht, als Toni den letzten Spaziergang mit Pater Emanuel machte. Er trug, obwohl es eigentlich verboten war, sein weißes Habit, aber niemand sprach ihn je darauf an. Er selbst hatte nur einmal gemurrt, man könne ihn zwar seines Heimes berauben, nicht aber dazu zwingen, die Gewandung aufzugeben, die er den größten Teil seines Lebens aus Überzeugung getragen habe. Dennoch nahm er mit aufrichtigem Dank die wollenen Strümpfe an, die Toni ihm gestrickt hatte.
»Was wirst du tun, Toni, wenn du wieder zu Hause bist?«
»Och – in die Schule gehen, der Mutter beim Marktstand helfen, Beeren und Pilze sammeln. Jemanden finden, bei dem ich in die Lehre gehen kann. Ich kann ja nicht Soldat werden.«
»Du wirst wohl erst einmal ein Mädchen werden.«
»Nicht gerne, Pater Emanuel.«
»Was würdest du denn lieber machen, wenn du dir etwas wünschen könntest?«
»Vielleicht eine Bücherstube führen.«
Sie hatten am Tag zuvor die kleine Buchhandlung am Ort aufgesucht, wo Pater Emanuel für sie ein Abschiedsgeschenk erstehen wollte. Es begeisterte sie, in einem Laden voller Druckerzeugnisse zu stöbern. Viel gab es da, was sie zu gerne näher betrachtet hätte. Werke mit Landkarten, solche mit Stichen von Flora und Fauna fremder Länder, anatomische Bücher. Gedichtbände, Romane, Erzählungen, einige illustriert – es erschien ihr eine wahre Wunderwelt.
»Warum solltest du das nicht? Du bist von rascher Auffassung und bringst den Büchern Achtung entgegen. Such dir so einen Buchhändler, der dich in die Lehre nimmt.«
»Meinen Sie, das würde gehen?«
»Ich habe den festen Glauben daran, Toni, dass du alles, was du wirklich willst, auch erreichst.«
Toni blieb an der Brüstung der Brücke über die Ruhr stehen und sah auf das glitzernde Wasser hinaus.
»Ich habe bislang nicht viel über die Zukunft nachgedacht, Pater Emanuel. Es ist immer so viel um mich herum geschehen. Ich sollte es aber bald tun.«
»Es ist immer gut, sich nicht nur nähere, sondern auch fernere Ziele zu setzen, mein Kind.«
Versonnen meinte Toni dann: »Ich würde Köln gerne wiedersehen. Ich war erst vier Jahre alt, als wir fortzogen.«
Pater
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