Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
geworden.«
»Im Dezember bin ich zweiundachtzig geworden. Aber ich fühle mich nicht so.«
»Ich mich auch nicht, ehrwürdiger Bruder.«
»Ich heiße Emanuel, Toni. Und – nein, du bist älter als deine Lebensjahre. Aber ich – ja, ich bin jünger, will mir scheinen. Etwa dein Alter hüpft in meinem Geist herum. Auch wenn mein Körper nicht mehr so will wie vor siebzig Jahren.«
»Sind Sie schon lange im Kloster?«
»Mit sechzehn wurde ich Novize, mit achtzehn habe ich den Profess geleistet und mit zwanzig die ersten Weihen erhalten. Tja – sechsundsechzig Jahre sind wohl eine lange Zeit. Kaum vorstellbar, dass sie jetzt zu Ende gehen soll.«
»Ach du lieber Gott, ja. Sie gehören ja zur Entschädigung.«
Der Mönch blieb überrascht stehen. »Du weißt davon?«
»Natürlich. Ich lese oft Zeitung, wenn ich eine finde. Mamas Freund erklärt mir das, was ich nicht verstehe. Wenn ich lange genug nachfrage. Der Lehrer tut das nicht, der guckt mich immer nur blöde an, wenn ich von ihm wissen will, was Säku… Säkulie...«
»Säkularisation.«
»Ja, also, was das nun bedeutet. Es heißt, die Klöster werden aufgelöst und die Mönche und Nonnen müssen ausziehen, nicht wahr?«
»Richtig, das ist die Folge davon.«
Sie hatten ihren Gang wieder aufgenommen, und Toni, die keine falsche Scham kannte, fragte neugierig weiter.
»Was werden Sie tun, Bruder Emanuel?«
»Ich weiß es noch nicht. Vielleicht nimmt mich der Sohn meiner Schwester auf. Er wohnt in Paderborn, und ich werde wohl einen Bettelbrief schreiben müssen.«
»Sie mögen das nicht.«
»Nein, Toni. Ich mag das nicht. Aber was soll ich sonst tun, halbblind, wie ich bin. Derzeit sorgt die Klostergemeinschaft für mich, ich bekomme mein Essen und Kleidung. Man hilft mir, mich zurechtzufinden und erzählt mir die Neuigkeiten. Viele von den Unseren tragen bereits weltliche Kleidung und suchen sich Beschäftigungen außerhalb des Klosters. Aber ich kann nicht mehr viel tun, ich bin nur eine Last für andere. Bald werden die Kommissare unseres neuen Landesherrn unser Haus für andere Zwecke beschlagnahmen.«
»Sie brauchen eine Wohnung und Leute, die sich um Sie kümmern. Haben Sie Geld?«
»Was bist du für ein gradlinig denkendes Kind, Toni!«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ist doch eine wesentliche Sache, oder nicht?«
»Ist es wohl. Ja, ich werde Geld haben. Ich werde mich noch heute darum kümmern. Das wird den Bettelbrief ohne Zweifel dem Empfänger schmackhafter machen.«
Sie hatten das Kloster erreicht, und der Pförtner bedachte den Mönch mit einem gutmütigen Vorwurf.
»Schon wieder unerlaubt ausgeflogen, Pater Emanuel?«
»Und beinahe den Fischen zur Beute geworden, hätte mich dieser junge Bursche nicht im letzten Augenblick vom Eis gerettet.«
»Du solltest doch immer einen Begleiter mitnehmen, wenn du deine Runde machst.«
»Schon recht, schon recht. Aber alle waren beschäftigt.«
Toni wollte sich verabschieden und legte dem Mönch die Hand auf den Arm. »Ich gehe jetzt. Sie sind ja in sicherer Obhut, nicht wahr?«
Pater Emanuel drehte sich zu ihr um und blinzelte angestrengt. Dabei bedeckte er ihre Hand mit der seinen.
»Sag, Kind, sind deine Tage sehr ausgefüllt, oder könntest du dann und wann eine Stunde entbehren, um mit mir einen Spaziergang zu machen?«
»Ich könnte die Schule schwänzen.« Es klang überaus hoffnungsvoll.
»Das bestimmt nicht.«
»Schade. Aber nach dem Essenverteilen im Lazarett hätte ich Zeit. Soll ich morgen wiederkommen?«
Es war für alle Beteiligten eine äußerst erfreuliche Vereinbarung, die sie auf diese Weise getroffen hatten. Elisabeth war froh, dass Toni nicht mehr mit den Dorfbuben oder alleine herumzog. Pater Emanuel musste nicht seine Mitbrüder belästigen, und Toni selbst genoss die anregenden Gespräche, die sie mit ihm führen konnte. Sie war es auch, die eine Unterkunft für ihn fand, bis sich sein Neffe auf den Brief meldete, in dem er ihn um Aufnahme gebeten hatte. Auf Tonis Anraten hatte Elisabeth die Damen des örtlichen Wohltätigkeitskränzchens entsprechend bearbeitet, und als der Schnee taute, zog Pater Emanuel in das Haus des Apothekers ein. Denn am 25. Februar 1803 hatte der Reichsdeputationshauptschluss die Landesherren ermächtigt, alle geistlichen Organisationen in ihren Territorien zu säkularisieren. Es geschah umgehend.
Der Prämonstratenserorden war glücklicherweise reich genug, um für seine Mitglieder selbst nach der Auflösung angemessen zu
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