Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Emanuels erblindete Augen sahen in die Ferne, und seine pergamenttrockene, warme Hand umfasste die ihre mit erstaunlich festem Griff.
»Du wirst zurückkehren, Antonia. Seltsamerweise bin ich mir dessen ganz sicher. Du wirst zurückkehren, genau wie die Heiligen Drei Könige. Es wird dein ganzes Leben verändern. Aber du bist stark, meine Tochter, stark genug, um selbst den größten Verlust zu überwinden und einen Gewinn daraus zu ziehen. In den Feuerbränden der Welt wirst du noch aufrecht stehen und das verteidigen, was dir von Wert ist, auch wenn du kein Soldat bist.«
»Pater Emanuel.« Gepresst klang Tonis Stimme, als sie zu ihm aufblickte.
»Manchmal kann sogar ein blinder Pater ein Goldkorn sehen«, erklärte der alte Mönch und lächelte sie an. »Du bist eines. Ich werde immer an dich denken und dich jeden Tag in meine Gebete einschließen. Du hast Licht in mein Leben gebracht, als ich schon dachte, die Dunkelheit würde mich für immer umschließen.«
»Ich könnte hierbleiben, Pater Emanuel. Und für Sie sorgen.«
»Nein, meine Liebe, das wirst du nicht. Du hast einen langen und aufregenden Weg vor dir, meiner ist nur mehr kurz. Aber ich habe nun vieles, woran ich mich mit Freude erinnern kann.«
»Ich möchte Sie aber nicht verlassen.« Toni klang plötzlich sehr kindlich, und die Wehmut in ihrer Stimme erschütterte den alten Mann.
»Du hast für dein junges Leben viel zu oft Abschied nehmen müssen, Antonia. Und jedes Mal hat es dir wehgetan, nicht wahr?«
»Ja, aber ich versuche, jetzt nicht mehr zu weinen.«
»Du solltest dich nicht verhärten, liebes Kind. Abschiednehmen schmerzt immer und hinterlässt Narben im Herzen. Tränen weichen sie wieder auf. Vergiss nicht, kein Abschied ist für immer. Auch der Tod ist kein endgültiges Scheiden. Niemand ist wirklich fern von dir, wenn du dich seiner mit Liebe erinnerst.«
»Ach, Pater...«
Als sie zurückgingen, hatte er wieder die Hand auf Tonis Schulter gelegt und ließ sich von ihr vertrauensvoll führen. Sie brachte ihn bis in sein Zimmer, und dort nahm er das goldene, mit Perlen besetzte Kreuz ab und legte es ihr um den Hals.
»Erinnere dich meiner!«
»Immer, Pater Emanuel«, versprach Toni und wischte sich die Tränen ab.
»Der Herr segne und behüte dich, mein Kind. Er wache über deine Wege und erfülle dein Herz mit Freude.«
Am nächsten Morgen folgten Toni und Elisabeth im Marketenderwagen den ausziehenden Truppen.
Tonis Absicht, in Altenkleusheim noch einmal nach der Köhlerhütte zu suchen und die Handschriften zu retten, schlug fehl. Diesmal machten sie dort nicht Lager, sondern zogen ohne weiteren Halt nach Süden.
Aufbegehren
Ich denke was ich will
Und was mich beglücket,
Doch alles in der Still’,
Und wie es sich schicket.
Volkslied
Sarah Susanne Bernsdorf sah ihrem achtzehnten Geburtstag in der kommenden Woche mit gemischten Gefühlen entgegen. Ihr Onkel und ihre Tante hatten ihr unmissverständlich klargemacht, sie habe baldmöglichst einen akzeptablen Heiratsantrag anzunehmen, um den Haushalt zu entlasten. Nun ja, verständlich war der Wunsch ihrer Familie. Die Hirzens lebten in edler, aber schäbiger Grandezza in dem weitläufigen, heruntergekommen Stadthaus, das seine Gründung im Mittelalter erlebt hatte. Ihre beiden eigenen Töchter waren schon eine Belastung für die angegriffenen Finanzen, sie sollten wenigstens eine einigermaßen anständige Mitgift erhalten. Da war für die angenommene Tochter der irregeleiteten Schwester nicht mehr viel Spielraum. Eine schnelle Verheiratung war also wünschenswert. Es hatte einige Auseinandersetzungen zu diesem Punkt gegeben. Keine lautstarken, bewahre! Leise, aber kalte Worte waren gefallen. Man hatte Susannes Mutter nie verziehen, dass sie im Alter von achtzehn Jahren mit dem Lutheraner Johann Daniel Bernsdorf ausgerissen war und ihn zivil im preußischen Altena geheiratet hatte. Zu allem Überfluss war der Mann auch noch ein windiger Künstler gewesen.
Jetzt, zehn Jahre nach dem tragischen Unfall ihres Vaters, im September 1804, saß Susanne in ihrem Zimmerchen und versuchte, ihren aufsteigenden Zorn in den Griff zu bekommen. Unwillig betrachtete sie dabei die sich von den Wänden lösende Tapete. Für eine Renovierung der abgelegeneren Räume war kein Geld da, aber der Salon hatte gerade neue Samtportieren erhalten.
Draußen auf dem Neuen Markt hörte man es hämmern. Seit Tagen war größte Geschäftigkeit in den Straßen der Stadt
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