Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
Tiedge
Der dritte Tag des neuen Jahres sollte für Antonia zu einer bleibenden Erinnerung werden. Sie brachte ihr Kind zur Welt, und seit Mittags um zwölf bestürmten von der anderen Rheinseite die Preußen unter General Boltenstern die Stadt. Im Zimmer, in dem sie mit zusammengebissenen Zähnen dem Wehenansturm trotzte, hörte man die Schüsse der Kämpfenden und Kanonendonner.
»Wie die Mutter, so die Tochter«, bemerkte Antonia, als Susanne ihr mit einem feuchten Tuch den Schweiß von der Stirn wischte. »Oder wie der Vater. Kanonendonner scheint uns alle von Kindheit an zu verfolgen.«
»Ich hoffe nur, dass sie nicht das Haus besetzen.«
»Hast du Angst?«
»Ein bisschen.«
»Noch sind sie vor der Stadtmauer. Cornelius behauptet, es sei das Potsdamer Gardej ägerbataillon, das seit dem fünfzehnten Dezember in Mühlheim liegt. Reichlich übermütig von ihnen, gegen eine befestigte Stadt anzurennen. Mach dir also keine zu großen Sorgen, sondern lass mich lieber ein paar Schritte durch das Zimmer gehen.«
Susanne half ihr beim Aufstehen und unterstützte sie, während sie schwerfällig auf und ab wanderte. Es war seit langer Zeit das erste Mal, dass sie ihrer Freundin wieder näherkam. Seit Antonia im vergangenen Jahr ihre Liebesaffäre mit dem General eingegangen war, hatte sie leicht verschnupft und eifersüchtig Abstand zu ihr gehalten. Die beiden Männer, die sie für ihre ersten Lieben gehalten hatte, Cornelius und Renardet, hatten sich nicht ihr, sondern Antonia zugewandt, und das schmerzte sie. Aber ihr Gefühl für Gerechtigkeit hatte inzwischen gesiegt, und das tragische Ende der Beziehung hatte sie ebenfalls betroffen gemacht. Dann aber war es Antonia gewesen, die sich in ihrer Trauer zurückgezogen hatte. Erst als Susanne ihren Neujahrsbesuch bei Waldeggs machte, erschien sie ihr wieder zugänglich, vertraute ihr wieder ihre Gedanken an und bat sie schließlich, ihr bei der Geburt beizustehen.
»Uch!«, stöhnte Antonia und wankte zum Bett.
»Nächste Wehe?«
Sie bekam keine Antwort mehr, hielt aber Antonias Hand fest, während diese sich durch die Schmerzen quälte. Als es vorüber war, plauderte Susanne wieder mit ihr.
»Unser Freund, cher Frédéric, ist jetzt unter die Herrenschneider gegangen, hast du das gewusst?«
»Nein. Aber der ondulierte Affe hat ja eine Neigung zu modischen Anzügen. Nimmt er persönlich Maß an seinen Kunden?«
»Das nun doch nicht. Er hat eine Anzeige in der Kölnischen Zeitung, in der er konfektionierte Ware anbietet.«
»Eigentlich ist er ein schlauer Kerl, Susanne. Das Geschäft mit den Uniformen für die Franzosen wird über kurz oder lang stagnieren.«
»So kann man es wohl ausdrücken.«
»Ob allerdings in der nächsten Zeit preußische, russische oder österreichische Farben mehr gefragt sein werden, weiß man ja noch nicht. Also ist es sinnvoll, zivile Anzüge herzustellen. Selbst bei gewissen Militärpersonen könnte demnächst eine große Nachfrage danach entstehen.«
Susanne kicherte und wanderte mit Antonia wieder langsam durch den Raum. »Die Kupfer für die Anzeige hat übrigens Cornelius’ seltsamer Findelhund gemacht.«
»René? Findelhund ist gut. Er sieht wirklich aus wie ein verlotterter Dackel. Krummbeinig, langnasig und mit einem Ausdruck im Gesicht, dass man jederzeit erwartet, seine Ohren müssten nach unten schlappen.«
Der Kupferstecher war im November in der Druckerei aufgetaucht und hatte Cornelius nach Arbeit gefragt. Er musste Paris verlassen, weil er, wie er erklärte, von seiner Vergangenheit eingeholt worden sei. Die Leute, die ihn einst mit der Herstellung aufrührerischer Drucke beauftragt hatten, die ihn dann ins Bagno führten, waren wieder an ihn herangetreten, und er entzog sich wohlweislich durch Flucht. Köln war ihm eingefallen, da es weit genug entfernt lag und er sich von Cornelius Hilfe erhoffte. Antonia glaubte die Geschichte nicht, Cornelius auch nicht, er gab dem ehemaligen Kettensträfling zu verstehen, er habe keine feste Arbeit für ihn. Trotzdem bot er ihm den Lagerraum als vorläufige Unterkunft an und nannte ihm Adressen einiger anderer Verlage und Drucker. René hielt sich daher mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser. Er bewohnte inzwischen eine einfache Bleibe und tauchte nur manchmal nach Arbeitsende bei Cornelius auf, um die Handpresse für Probeabzüge seiner Kupferstiche zu benutzen. Meist waren es, so wie Kormanns Werbung für Herrenanzüge, Anzeigen von Einzelhändlern und kleinen
Weitere Kostenlose Bücher