Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
der Gott, der Eisen wachsen ließ, gab auch mir ›den kühnen Mut, den Zorn der freien Rede‹, wie es so schön hieß. Auch das, was ich Ihnen eben schilderte, beschrieb mir mein Bruder. Und, wie Sie ja alle inzwischen wissen, bin ich die Letzte, die den Wahrheitsgehalt seiner Worte anzweifelt, denn ich selbst bin über Schlachtfelder gegangen und habe das Elend mit eigenen Augen gesehen.«
Wieder unterbrach allgemeines Flüstern ihre Rede. Als es abgeebbt war, fuhr sie fort.
»Obwohl die großen Feldherren sich nicht um ihr Kanonenfutter kümmern, so gibt es doch Menschen, in deren Brust noch ein mitleidiges Herz schlägt. Kameraden, Marketender oder Dorfbewohner sammeln die Verwundeten auf und bringen sie in Lazarette.«
»Warum schildern sie dann überhaupt diese degoutanten Szenen?«, begehrte ein Zwischenrufer auf.
»Weil, werter Herr, ich damit zu dem eigentlichen Kern meiner Rede kommen möchte. Ich bitte die Damen, ihre Riechfläschchen bereitzuhalten.«
Das war ein weiser Rat, denn Antonias Schilderung der Zustände in den Lazaretten war so drastisch, so bildhaft und so unmissverständlich, dass sich lähmendes Schweigen ausbreitete. Sie erzählte von Fleckfieber und Ruhr, von Eiter und Läusen, von stinkenden Decken, zerlumpten Kleidern und erbärmlichen sanitären Bedingungen, von Durst und Hunger, Wundbrand und Amputationen ohne Betäubung.
»Die Toten aber werden bis zu fünfzig auf einmal hinaus auf die Felder gefahren und nackt verscharrt. Weil es vorkommt, dass einige noch leben, werden die Gräber nicht ganz zugemacht, damit jene, die zu sich kommen, Hilfe suchen können.«
»Hören Sie auf! Hören Sie auf!«, schrie eine Frau und rannte nach draußen.
»Ja, verbieten wir ihr endlich den Mund!«, brüllte der Herr mit den Ordensternen und wollte wieder das Podest erklimmen.
»Wie kann eine anständige Frau wie Sie nur solchen Unrat verbreiten!«, schimpfte eine weitere Dame.
Ein energisches Pochen ertönte, und die brüchige Stimme, die sie schon einmal unterstützt hatte, durchdrang das aufgeregte Reden.
»Sie wird ausreden. Und ihr werdet zuhören.«
Antonia fand die Quelle dieser scharfen Stimme. Es war eine weißhaarige, sehr alte Frau, die mit ihrem Gehstock kräftig auf den Boden gepocht hatte. Sie bemerkte ihren Blick und nickte ihr zu. »Weiter, Mädchen!«
»Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen diese Missstände nicht zu meinem Vergnügen geschildert, sondern weil ich Sie darauf aufmerksam machen möchte, dass wir hier in Köln außer dem Bürgerhospital keinerlei Möglichkeiten haben, Blessierte zu versorgen. Doch sie werden kommen, meine Damen und Herren. Sie werden zu Hunderten, ja zu Tausenden kommen. Hundertzwanzigtausend Tote und Verletzte hat die Schlacht von Leipzig gekostet, die Gefechte und Kämpfe, die sich die Heere auf dem Rückzug liefern, werden weiter Tausende Opfer fordern. Die Front nähert sich dem Rhein. Die siegreichen Helden bedecken sich mit Ruhm und kümmern sich nicht um ihre gefallenen Kameraden. Es bleibt an uns Frauen, an den Gefährtinnen und Müttern, den Töchtern und den Schwestern, dieses Versäumnis nachzuholen. Für die armen Wöchnerinnen in der Stadt wurde auf Initiative meiner Mutter die Société maternelle gegründet. Ein Verein, der sich um die verwundeten Soldaten kümmert, könnte hier Abhilfe schaffen. Wir werden Betten benötigen und Decken, Mahlzeiten müssen gereicht werden und Kleidung gestellt. Wir brauchen Verbandsmaterial und Medikamente, wir brauchen Quartiere – und wir brauchen Ärzte und Pflegerinnen. Ich rufe Sie auf – nicht bei dem eisernen Gott, sondern bei dem barmherzigen Vater, bei dem mitleidigen Sohn und bei der schmerzensreichen Mutter – das Elend der Kranken und Verletzten zu lindern.«
Aus einer hinteren Ecke erscholl ein lautes Händeklatschen, und vereinzelt wurde es aufgenommen. Doch nicht von allen, denn die Rede war aufwühlend gewesen und die heraufbeschworenen Bilder Entsetzen erregend.
Antonia sah, wie die alte Dame Doktor Schmitz einen Wink gab. Er eilte an ihre Seite und half ihr auf. Auf seinen Arm und auf ihren Stock gestützt ging sie zum Podium und ließ sich die zwei Stufen hinaufhelfen.
»Sie sind entsetzlich vorlaut, Mädchen«, rügte sie leise. »Aber Sie haben verdammt Recht!« Wieder pochte sie mit dem Stock auf den Boden, und das Holz des Podiums dröhnte unter ihren Schlägen. »Habt ihr euch jetzt genug echauffiert?«, fragte sie in die Menge.
Man verstummte
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