Kreuzblume: Historischer Roman (German Edition)
davon verstanden hat.«
»Ich glaube, er versteht mehr, als wir ahnen.«
»Ich habe sie ihm aber auf Französisch gehalten.«
Toni gluckste plötzlich. Elisabeth war nicht besonders sprachbegabt, und ihr Wortschatz beschränkt und höchst eigenwillig. Er umfasste vor allem Zahlen, Marktwaren und Schimpfworte. Aber sie wurde wieder ernst, als sie einwandte: »Mama, er hatte keine unrechte Absicht. Nicht wie der staubige Hintzen. Er hält mich doch für einen Buben.«
»Ja, das tut er. Darum ist es vielleicht sogar noch schlimmer. Wenn er einer von den Männern ist, die sich nach Jungen sehnen, kann dich das in große Schwierigkeiten bringen.«
»Er hat nicht den Ruf.« Toni kannte auch diese Seite des Soldatenlebens, hatte Geschwätz und Andeutungen zu verstehen gelernt und Warnungen erhalten.
»Hat er nicht, aber seine Reaktion war ziemlich eindeutig.«
»Er war betrunken.«
»Eben. Er mag sich sonst unter Kontrolle haben.«
»Es ist wahrscheinlich meine Schuld gewesen, Mama. Ich habe ihn, bevor er einschlief, über das Gesicht gestreichelt. Er tat mir so leid.«
»Ja, das mag unüberlegt gewesen sein. Je nun, Toni. Geh ihm einfach aus dem Weg.« Schließlich seufzte sie noch einmal abgrundtief. »Wir hätten nicht mitziehen sollen. Nein, diesmal hätten wir nicht mitziehen dürfen. Du bist zu alt dafür, Toni. Und ich auch.«
»Wir können aber jetzt nicht zurück.«
»Nein, wir müssen den Weg bis zum Ende gehen. Aber ich habe kein gutes Gefühl dabei.«
Später lag Toni unter ihren Decken und konnte trotz aller Müdigkeit nicht einschlafen. Während sie mit den Gesichtern kämpfte, die vor ihrem inneren Auge aufstiegen – das des preußischen Leutnants und das des französischen Colonels – da dämmerte es ihr ganz langsam, dass die Veränderung, die eingetreten war, in ihrer Seele stattgefunden hatte. Äußerlich mochte sie ein Junge sein, aber in ihrem Herzen war sie nun eine Frau.
Das machte alles so schwierig und unberechenbar.
Der Genuss der Freiheit
What shall we do with the drunken sailor,
Early in the morning?
Seemannslied
Sogar als man ihm verkündete, er habe eine Begnadigung erhalten und dürfe das Bagno jetzt, im Oktober 1806, drei Jahre früher, als das Strafmaß besagte, verlassen, zeigte Cornelius keine Regung. Er nahm stumm das versiegelte Schreiben entgegen, das für ihn hinterlegt worden war, und steckte es ungelesen ein.
Er hatte mit nichts mehr gerechnet, erst recht nicht mit seiner Freilassung. Nun stand er am Hafen von Brest und starrte auf das graue Meer hinaus, ein freier Mann. Das Tor des Arbeitslagers war hinter ihm zugefallen, die Kette von seinem Bein gelöst, die Sträflingskleidung gegen einen Seemannskittel und derbe Pantalons ausgetauscht. Trotzdem fühlte Cornelius sich gefangen. Die sieben Jahre konnte er nicht einfach ablegen wie die Nummer sechshundertvierundneunzig auf seiner Mütze. Er war wieder Hermann Cornelius von der Leyen – und er war es doch nicht.
Zwei Mädchen in schwarzer Tracht, bei denen die weißen Spitzen der voluminösen Unterröcke unter den Röcken hervorblitzten, als sie die Hüften verführerisch schwenkten, und die ihre hohen Hauben im Wind festhalten mussten, schlenderten kichernd an ihm vorbei und bedachten ihn mit einem kecken Seitenblick. Er beachtete sie nicht. Er sah die grauen Wolken, die sich über dem Meer weit draußen zusammenballten, sah die gischtgekrönten Wellen gegen die Kaimauer schlagen und das verrottende Gerippe eines gestrandeten Fischerbootes. Möwen hatten sich darauf niedergelassen und flogen, als ein Fischer den Strand entlangging, gemeinsam auf. Ihre Schreie klangen einsam durch die salzige Luft. Cornelius verfolgte ihren Flug und ihr müßiges Schaukeln auf dem bewegten Wasser. Er war nicht in der Lage, einen Entschluss zu fassen. Sieben Jahre lang hatte er kaum einen Entschluss gefasst, hatte sich befehlen lassen und hatte gehorcht. Wann immer er etwas Eigenmächtiges getan hatte, war es bestraft worden, wann immer er sich einem Menschen genähert hatte, war er verlassen worden. Er hatte sich Pierre gegenüber geöffnet, gegen seinen Entschluss, unbeteiligt zu bleiben, und der war gestorben. Er hatte sich mit Mathias angefreundet, und der war hingerichtet worden.
Trotzdem – der Tag war dunkel, der Wind kalt. Bald würde es anfangen zu regnen. Er brauchte eine Unterkunft für die Nacht, etwas zu essen, einen Ort, wo er alleine sein konnte.
O Gott, was für ein Luxus – alleine zu
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