Kreuzigers Tod
sie in Zeitungen und Zeitschriften finden kann. Man sieht zwei zum Verwechseln ähnliche Bilder nebeneinandergestellt und soll die Fehler, das heißt die Unterscheidungsmerkmale der Bilder suchen, die man auf den ersten Blick gar nicht sieht. Auch die beiden Portraits von Engel schienen gleich, und doch waren sie unterschiedlich. Das linke war ruhiger, das rechte beunruhigend, unheimlich. Ei-nerseits war es so, dass die Verselbstständigung der Details des Kinderpullovers auf dem rechten Bild ein Stück weiter gediehen war; wenn dieser Prozess auf dem linken Bild gerade losging, ohne dass man wusste, was dabei herauskommen würde, so war er auf dem rechten bereits unumkehrbar in ein Schwirren und Ausschwärmen der Ornamente umgeschlagen, das beinahe der eigentliche Gegenstand des Bildes geworden war. Aber da war noch etwas. Das linke Bild zeigte Engels Zähne entblößt. Er grinste. Da sah man seine hässlichen Zahnreihen, teilweise verfault und in den unterschiedlichsten Gelb- und Brauntönen gehalten. Aber: sie waren noch Teil einer kindlichen Unschuld und Engels Lächeln wirkte insgesamt als eine Strahlkraft, die das Bild atmosphärisch unter Kontrolle behielt. Im rechten Bild dagegen hatte das Lächeln aufgehört, Mittelpunkt zu sein. Warum schien Engels Grinsen auf der rechten Seite so finster? Warum waren seine Zähne jetzt auf einmal verwahrlost und böse, und die Ornamente des Pullovers kannten wie ein Haufen kleiner Teufel überhaupt kein Halten mehr? Normalerweise wird die Strahlkraft eines Lächelns dadurch erhöht, dass sich die Mundwinkel weiter heben und sich das Lächeln ausweitet. Beim Engel aber war geradezu das Gegenteil der Fall. Seine Mundwinkel hoben sich auf dem rechten Bild weiter als auf dem linken, und dennoch verkehrte sich das Lächeln in eine abscheuliche Fratze. Die sich hebenden Lippen legten nämlich ausschließlich dunkelrot entzündetes, abstoßend buckliges Zahnfleisch frei, wie man es bei einem Hai sieht, wenn er sein Maul aufsperrt, bevor er zubeißt. Es war schrecklich. Ich konnte nicht länger hinsehen und wandte mich ab, nahm das Tuch von dernächsten Leinwand und sah - die Mühlbacherin. Eigentlich hätte ich mich darüber wundern müssen, dass ich sie so schnell erkannte, weil ich sie so nie gesehen hatte: jung, auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit. Das Bild war nur in Schwarz- und Brauntönen gehalten. Es war ein romantisches Bild. Die Mühlbacherin schaute nach rechts und war im Halbprofil zu sehen. In ihren Augen lag ein wehmütiger Schmelz, als läge in diesem ruhigen Moment ihre Zukunft sichtbar vor ihr. Jetzt erst sah ich, dass an den rechten oberen Rand des Bildes mit einer Büroklammer ein kleines Foto geheftet war, nach dem das Gemälde entstanden war. Ich griff danach, um es herunterzunehmen und aus der Nähe anzuschauen, und musste erkennen, dass es gar nicht da war, sondern samt Büroklammer zum Bild gehörte und also ebenfalls gemalt war. Was die Mühlbacherin auf dem Bild fremd und geradezu erhaben machte, war die Art, in der sie ihre Zukunft betrachtete. Gefasstheit und erste Anzeichen von Härte wiesen ihre Züge auf und standen in einem Gegensatz zur jugendlichen Frische des Fleisches. Aber dass sie angesichts ihres Schicksals erstarrte, machte sie nur fester. Nichts und niemand würde sie aus der Bahn werfen. Ich ging zur nächsten Leinwand, die gleich neben dem Portrait der Mühlbacherin stand. Dieses Gemälde schien auf den ersten Blick überhaupt nicht in den Reigen hineinzupassen. Es zeigte zwei Männer. Die Gesichter Varen schön und ebenmäßig, aber vollkommen ausdruckslos, als seien sie von einer eigentümlichen Lähmung befallen. Die beiden Männer waren ganzkörperlich abgebildet. Sie standen da und hatten doch überhaupt kein Gewicht. Ihre Anzüge waren elegant, aber sie brachten die Körper eher zum Ver-schwinden, als dass sie sie kleideten. Die Männer waren lang und schlank und aus den Ärmeln der Anzüge ragten Hände heraus, die sich aus bloßem Übermut in fein- gliedrige, wie noch nie gebrauchte Finger zu verzweigen schienen. Die beiden muteten an wie Gefährten oder waren sogar ein Paar. Wenn sie ein Paar waren, dann aber nicht, weil sie aufeinander bezogen gewesen wären, sondern weil sie gleichartig schienen und sich verbündet hatten, um ihrem Typus mehr Bedeutung und Einfluss zu verschaffen. Einer der beiden schaute streng und scharf zum Betrachter, und erst als ich mich von diesem Blick durchdringen ließ, wurde mir klar, dass es
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