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Kreuzigers Tod

Kreuzigers Tod

Titel: Kreuzigers Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Oberdorfer
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sah, die unten standen und zu ihm heraufschauten. Er schien sich mit seinen weit ausgebreiteten Armen darum zu bemühen, sein Volk zusammenzuhalten, und in seinem Gesicht konnte man sowohl die Gewissheit des Scheiterns als auch die Weigerung, aufzugeben, erkennen, und dieser Widerspruch verlieh dem Bild etwas Inständiges und zugleich Fragiles. Jetzt begannen - in der Wirklichkeit - die Kirchenglocken zu läuten; zu einem Zeitpunkt, zu dem sie sonst nie läuteten. War heute ein hoher Feiertag? Heiratete jemand? Es wurde doch kaum mehr geheiratet. Es musste Kreuzigers Begräbnis sein, das in Gang war, dachte ich. Obwohl die Kirche mehrere Kilometer entfernt mitten im Dorf lag, klang die Glocke klar und hell herüber, als wäre der Kirchturm ganz nah.
    Ich ging zum nächsten Bild und streifte die verhüllende Leinwand herunter. Endlich einmal eine Gruppe von Menschen! Es war eine Darstellung der Kolani-Familie. Vater, Mutter und die drei Söhne saßen im hohen Gras. Nur die beiden Erwachsenen und Hans-Peter, der älteste Sohn, schauten so weit aus dem Gras heraus, dass man sie erkennen konnte. Die beiden jüngeren waren beinahe unsichtbar. Die drei voll sichtbaren Figuren schauten zum Betrachter. Beim alten Kollani fiel auf, dass er irritiert wirkte. Die Heiterkeit und Sorglosigkeit, für die er im Dorf und übers Dorf hinaus bekannt war, schien verflogen. Seine Stirn war von Falten zerfurcht, ja regelrecht zerkratzt, und Verstörung trübte seinen Blick. War es so, dass das Familienbild den alten Kollani, der sonst so gerne allein unterwegs war, gezwungen hatte, als Vater in Erscheinung zu treten, was dann zur Verfinsterung der Miene geführt hatte? In den
    Bergen gab es eine Liebe zur Ungebundenheit, die nichts mit einem Einfordern politischer Rechte zu tun hatte, aber viel mit der Landschaft. Einerseits war die Landschaft an sich erhebend, weil sie sich aufschwang und entsprechend auf das Gemüt einwirkte, und andererseits warf diese karge Gebirgsgegend so wenig ab, dass sie nur wenige Menschen ernähren konnte, und die wohnten dann naturgemäß entlegen, allem Zugriff entzogen. Aber der Eigensinn Kollanis war auch für hiesige Verhältnisse ein besonderer, weil er damit niemanden tyrannisierte und seine Söhne nicht, wie es sonst so oft geschah, in seiner Selbstherrlichkeit zu verklemmten Sklavennaturen erzog, sondern er hatte sie gewähren lassen, und Hans-Peter schaute folgerichtig drein wie ein - Held. Das Eigenartige des Gesichtsausdrucks von Hans-Peter war, dass der Maler mit ihm ein Menschenbild beschwor, das man nicht nur nicht mehr realisiert fand, sondern das so weit außer Reichweite geraten war, dass man es sich kaum mehr vorstellen konnte. Er schaute so drein, als könnte ihm niemand etwas anhaben. Der Gesichtsausdruck war ernst und schien unmittelbar davor, in ein stilles Lächeln überzugehen, das aber im Bild gerade noch nicht sichtbar war, sich nur in seinem Blick anbahnte. Hans-Peter war so ins Bild gesetzt, dass er vor dem Vater saß und diesen halb verdeckte. Fühlte der Vater in diesem Moment, dass er alt war und schon bald sterben würde? Viele allzu frohe Frohnaturen verlieren im Alter, in Todesnähe die Fassung und werden ganz anders. Neben dem Vater war die Mutter abgebildet. Sie schaute auch aus dem Bild heraus und saß schwer und gelangweilt da, doch in ihrem runden Gesicht trat eine große seismographische Empfind-lichkeit zutage. Jetzt war das Sensorium ruhig, nichts störte; aber es war klar, dass dieses Ruhe-Bild im Fall eines Unglücks augenblicklich ins Gegenteil umschlagen würde. Vor ihr und neben Hans-Peter saßen die beiden jüngeren Brüder, die nur schematisch angedeutet waren, weil das hochgewachsene Gras sie beinahe zum Verschwinden brachte.
    Ich drehte den Kopf nach rechts und erkannte, dass ich mich dem Ziel meines Rundgangs näherte. Nur mehr eine Leinwand trennte mich von der Staffelei, auf der das große Tafelbild stand. Das letzte der kleinen Bilder zeigte nichts und wies mit keinem Quadratzentimeter über sich selbst hinaus. Es erweckte gar nicht den Anschein eines Bildes, sondern mehr den eines Gegenstandes. Die Leinwand war einfach nur schwarz angemalt, ja selbst der Begriff »angemalt« führt in die Irre. Ich brachte meinen Kopf so in Position, dass sich das Licht auf der Farbfläche spiegelte und die Art, in der die Farbe aufgetragen war, sichtbar wurde. Die Abwesenheit eines Ausdrucks- oder Gestaltungswillens erwies sich allerdings als bodenlos. Die Farbe war mit

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