Kreuzstein
du.«
»Nein«, erwiderte er mit erstickter Stimme. »Ich bin nicht mehr ich.« Unvermittelt schrie er los: »Mein richtiges Ich wurde zerstört, zerrissen, befleckt, auf den Müll geschmissen!«
»Malte, bist du missbraucht worden?«
Malte schlug die Augen nieder. Er traute sich nicht, Katy anzuschauen.
»Missbraucht«, wiederholte er gepresst. »Ja, so nennt man das wohl.« Er sprang abrupt auf und verließ den Kellerraum.
Es dauerte einige Minuten, bis sich die Tür wieder öffnete und Malte zurückkam. Er versuchte, selbstsicher zu wirken.
»Hast du nie mit jemandem darüber gesprochen?«, fragte Katy, die so tat, als sei er nicht weggegangen.
»Du bist die Erste, der ich es erzähle – und du wirst auch die Letzte sein.«
»Aber wie konntest du das für dich behalten? Darüber kann man doch den Verstand verlieren!«
»Vielleicht hast du recht. Ein bisschen wahnsinnig muss ich wohl sein. Aber wem sollte ich es denn erzählen? Meiner Mutter? Du weißt selbst, dass sie andere Sorgen gehabt hat. Und sie ist ja auch schon lange tot.«
Katy musterte ihn aufmerksam. Sie hatten im Heim auch solche Fälle. Die Hilfe, die sie den Jungen geben konnte, war immer nur sehr begrenzt, und manchmal war es, trotz der Unterstützung durch Psychologenkollegen, schlicht unmöglich zu helfen. Aber dort konnte sie die Gespräche zumindest selbst steuern oder vielleicht auch abbrechen, wenn die Diskussion eskalierte. Jetzt jedoch war sie gefesselt. Wenn es stimmte, was sie ahnte, dann …
»Wann hat sich das alles abgespielt?«, fragte sie zögernd.
Malte blinzelte und verzog das Gesicht. Es dauerte eine Weile, bis er antworten konnte.
»Die gesamte Ministrantenzeit über. Es ging ganz früh los. Zehn Jahre war ich damals. Das erste Mal, es ist wie eingebrannt in meinem Hirn, ich kriege es einfach nicht raus. Ich hatte doch keine Ahnung, von nichts. Ich war ein Kind, verstehst du? Ein Kind! Das waren Männer, zu denen alle aufsahen, halbe Heilige waren das für uns, und außerdem doch Respektspersonen. Am Anfang haben sie mich umschmeichelt. Ja, stolz war ich, dass sie gerade mich den anderen vorzogen. Ich bin blind in die Falle getappt. Ich war doch noch ein Kind.«
Malte schossen die Tränen in die Augen. Er gab sich keine Mühe mehr, sie zu verbergen.
»Danach brach alles zusammen. Ich hatte das Gefühl, mein Leben wäre vorbei. Und ich habe mich geschämt, unendlich geschämt. Das war das Schlimmste überhaupt.«
»Wie viele waren es?«
»Drei, und während der Ministrantenfreizeit auch noch der Hausmeister.«
»Haben sie dich erpresst?«
»Erpresst?« Malte sprang auf. »Gedroht haben sie mir, dass ich ja keinem was sagen soll. Mir würde sowieso niemand glauben, alle würden mich verachten, die Schulkameraden, die Familie, alle.«
»Und zu Hause haben sie nichts gemerkt?«
»Meine Eltern waren viel zu sehr mit sich beschäftigt. Mein Vater ist ständig fremdgegangen. Meine Mutter war ja berufstätig, und wenn sie mal zu Hause war, dann haben sie sich nur gestritten. Und später, als mein Vater dann endgültig abgehauen war, konnte ich sie damit nicht auch noch belasten. Nein, zu Hause hat keiner was erfahren.«
Malte stand auf und öffnete eine Kommodenschublade. Katy hörte, dass er etwas in eine Tasche sortierte, aber sie lag so, dass sie nichts erkennen konnte.
»War das der Grund, warum du mir gegenüber so scheu warst, manchmal so richtig komisch und abweisend, wenn wir uns getroffen haben?«
Er drehte sich um und stellte die sichtbar schwere Tasche auf den Boden.
»Was glaubst du denn? Hättest du einen ausgeglichenen, coolen Malte erwartet, der damit angibt, gleich mit drei Priestern ein Verhältnis zu haben?«
»Wie konntest du denn damit bloß leben? Das muss dich doch die ganze Zeit verfolgt haben.«
»Verfolgt? Es hat mich zerfressen, jeden Tag ein Stückchen mehr. Die Schule war die reine Katastrophe. Wie ich überhaupt das Abi geschafft habe, ist mir schleierhaft. Der eigentliche Zusammenbruch aber kam im Studium. Ich konnte keine größere Prüfung aushalten, hatte plötzlich schwerste Depressionen, kein richtiger Schlaf, Heulkrämpfe, Schweißausbrüche, das ganze Klavier. Und dann diese panische Angst zu versagen. Auch dein Vater hat mich nicht verstanden.«
»Wie bitte? Was hat mein Vater denn damit zu tun?«
»Ich habe gar nicht in Aachen studiert, das war gelogen. Alles Tarnung, genau wie meine Behinderung«, erklärte Malte trotzig. »Geologie habe ich studiert, hier in
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