Kreuzstein
hatte sich die Hände gewaschen und war auf den Flur getreten. Dann riss der Faden. Sie schlug die Augen auf, wollte den Kopf heben, mit den Fingern die schmerzenden Stellen massieren. Aber es ging nicht. An den Händen spürte sie etwas Kaltes, Metallisches, das ihr an die Gelenke schlug, als sie die Arme hochnehmen wollte. Das waren Handschellen! Erst jetzt erkannte sie, dass sie in einem trüb beleuchteten Raum lag, gefesselt an einen Holzpfahl, der vom Fußboden bis zur Decke reichte. Unter ihrem Rücken spürte sie eine wellige Matratze. Malte kam ins Zimmer, in der Hand eine Flasche Wasser, einen Eimer und etwas Obst.
»Hier, falls du noch einmal aufs Klo musst.«
»Bist du verrückt? Was soll der Scheiß?«, brüllte sie ihn an. »Mach mich sofort los! Ich habe keine Lust auf solche Spielchen.«
»Beruhige dich. Und schrei nicht so. Hier kann dich sowieso keiner hören.«
»Das wollen wir doch mal sehen.« Katy holte tief Luft und fing an zu kreischen, bis sie nicht mehr konnte. Das hatte sie als Kind schon perfekt beherrscht. Das Ganze kam ihr vor wie ein Schuljungenstreich. Wirkliche Angst hatte sie jedenfalls nicht.
Malte blieb völlig ungerührt. »Keine Chance. Du wirst schon sehen. Das ist ein alter Keller in der Mitte zwischen zwei Wohnungen in einem Altbau. Mächtige, solide Steinmauern.«
Katy blickte sich verunsichert um. Neben einem alten Schreibtisch, einer Kommode und einigen verrosteten Gartengeräten stand nichts in diesem Kellerraum. An den Wänden aus Naturbruchstein waren an einigen Stellen gelblich-weiße Reste eines Kalkanstrichs zu erkennen. Kurz über dem Boden verlief ein Metallrohr, vermutlich die Wasserleitung, die an der einen Wand T-förmig nach oben abzweigte und durch die Decke ging. An ihr war mit Kabelbindern eine Stromleitung befestigt, die an der Decke zur Lampe führte. Katy wurde es ein wenig übel, als ihr auf einmal klar wurde, dass sie tatsächlich in Maltes Gewalt war.
»Wie hast du mich betäubt?«
»Das war nur ein kleiner K.O.-Sprüher, mehr nicht. Du warst zehn Minuten weggetreten.«
»Du machst doch nicht wirklich ernst?«
»Doch, ich meine es völlig ernst.«
»Willst du mich vergewaltigen?«
»Nein.« Er warf ihr einen verwunderten Blick zu. »Wie kommst du denn darauf? So was mache ich nicht.«
»Verflucht noch mal, was willst du denn dann?« Langsam wurde Katy wütend. »Heute ist Heiligabend, mein Vater wartet auf mich. Nimm mir endlich die verdammten Dinger ab. Du hast deinen Spaß gehabt, und jetzt ist es gut.«
»Nein.« Wieder sah Malte sie mit diesem leicht verwunderten Gesichtsausdruck an. »Ich will doch nur, dass du eine Weile aus dem Verkehr gezogen bist. Am Ende würdest du mich noch verraten.«
Er hockte sich vor sie und umfasste ihre Handgelenke.
»Du darfst nicht so an den Fesseln zerren. Das gibt wunde Stellen«, sagte er fürsorglich.
Plötzlich schoss Katy ein schrecklicher Gedanke durch den schmerzenden Kopf.
»Hat es etwa was mit den Sprengungen zu tun?«
Malte blinzelte nervös, stand auf und ging einige Schritte in dem kleinen Raum auf und ab.
»Siehst du, ich habe mir schon gedacht, dass du es herausfinden wirst.«
»Was denn herausfinden?«, fragte Katy aufgebracht. »Verflucht noch mal, jetzt hör endlich mit dieser verdammten Scheiße auf.«
Malte drehte sich ruckartig um und baute sich drohend vor ihr auf. Unbeherrscht brüllte er so laut, dass Katy zusammenzuckte: »Jetzt hör mir mal gut zu. Alles hat eine Ursache, und diese Ursache habe ich nicht zu verantworten. Du mit deiner heilen Welt hast ja keine Ahnung, was in mir vorgeht. Es gibt Dinge, die machen einen kaputt. Kaputt«, wiederholte er mit Nachdruck. »Du denkst, da steht einer vor dir, der hat Kopf und Beine wie die anderen auch, ist ein völlig normaler Mensch, aber das ist ein ganz großer Irrtum. Das ist nur eine Hülle. Sie sieht von außen normal aus, aber innerlich ist sie zerfressen, zerfressen von Widersprüchen, Hass und Scham.«
Malte regte sich während des Redens so auf, dass er anfing zu zittern. Erst kaum merklich, dann immer stärker, bis er schließlich einen Hustenanfall bekam und sich abwenden musste. Als er sich wieder ein wenig erholt hatte, hockte er sich sichtlich erschöpft vor Katy auf den Boden. Die beiden starrten sich lange Zeit an, ohne ein Wort zu wechseln. Schließlich fragte Katy mit leiser Stimme: »Malte, was ist mit dir los? Was hat man dir getan? So kenne ich dich gar nicht, was ist denn passiert? Das bist doch nicht
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