Kreuzstich Bienenstich Herzstich
nämlich jeder nur an verstaubte Wandbilder oder Tischdeckchen aus dem Nachlass der Großeltern.
Doch für Seifferheld war Sticken weitaus mehr.
Sticken war Leidenschaft, Ausdruck seiner Gefühle, Entspannung, Sinnesbefriedigung und Abenteuer. Die Suche nach neuen Motiven, die Qual der Entscheidung, welches Garn man verwenden sollte, die präzise Ausarbeitung, das Hochgefühl nach der Fertigstellung …
Sticken war besser als Sex!
Asche zu Asche, Staub zu Staub und tote Pekinesen zum Präparator
Seifferhelds Stadtbüchereirecherche hatte ergeben, dass Müllerschön – der erste Tote – auf dem Waldfriedhof begraben lag. Das war weiter nicht verwunderlich, denn auf dem Waldfriedhof landeten alle Haller nach ihrem Ableben. Auch Seifferhelds Annemarie.
Kurz vor eins gab Seifferheld Onis ein Schweineohr. Der Hund hasste Busfahrten und der Waldfriedhof lag, wie der Name schon sagte, im Wald und mithin nicht in Gehweite. Onis würde zu Hause bleiben müssen.
Die Stadtbuslinie 3 brachte trauernde Hinterbliebene zwar bis vor die Tür, aber nicht sonn- und feiertags, wo man doch im Allgemeinen die Zeit hat, die lieben Verstorbenen zu gießen. Idiotie hoch zehn.
Es war jedoch weder Sonn- noch Feiertag, also zuckelte Seifferheld um zwanzig nach eins ab Haltestelle Spitalbach Ost mit dem Bus in Richtung Waldfriedhof. Er hatte für Annemarie noch rote Rosen besorgt. Eigentlich erledigte Irmi die Grabpflegearbeiten für ihre Eltern und seine Frau und er hätte sie natürlich bitten können, ihn rasch mit dem Auto zum Waldfriedhof zu fahren, aber dann hätte sie darauf bestanden, ihn zum Grab zu begleiten und ihn auch wieder nach Hause zu fahren, und genau das wollte er vermeiden.
Seifferhelds Gehhilfe klackte über den Asphalt. Der Weg zu Annemaries Grab zog sich endlos. Der Waldfriedhof war nämlich riesig. Bis hier voll war, würden noch etliche Haller das Zeitliche segnen können. Seifferheld machte sich dennoch keine Sorgen, wo er Müllerschön finden könnte, denn es wurde chronologisch vergraben und die jüngsten Gräber lagen – dank einem kreiselnden Rotationsverfahren – gar nicht so weit von der letzten Ruhestätte seiner Frau entfernt.
Eins musste man Irmi lassen: Sie erledigte ihre Pflichten mit hundertprozentiger Perfektion. Annemaries Grab war ein gärtnerisches Gedicht in Grün und Rot. Seifferheld stopfte seine Rosen in die Vase vor dem Grabstein, in dem ein großer Ast mit dunkelgrünen, glänzenden Blättern und kleinen roten Kügelchen steckte. Keine Ahnung, was das war, aber die Rosen sahen gut dazu aus.
Anschließend nahm Seifferheld vor dem Grab seiner Frau gewissermaßen Habtachtstellung ein und senkte den Kopf. Er war kein sehr spiritueller Mensch und wusste nie so genau, was er in einem solchen Moment denken sollte, aber diese Rodin-artige Körperhaltung hatte er von seinemVater übernommen, der vor dem Grab des Großvaters immer exakt so gestanden hatte. Wie alle Seifferheldmänner vor ihm wahrscheinlich auch schon. Es war die männliche Seifferheldkörperhaltung im Angesicht der Trauer. Oder beim Vaterunser in der Kirche. Seifferheld sprach kein Gebet, aber er zählte auch nicht bis hundert. Allerdings dauerte es exakt so lange, bis er wieder locker wurde, noch einmal dem Marmorgrabstein zunickte und dann in Richtung des übernächsten Planquadrats humpelte.
Es war ein unentschlossener Nachmittag, nicht wirklich kalt, aber auch nicht richtig warm, trocken und grau. Die Besucherdichte hielt sich in Grenzen.
Nach gut zehn Minuten hatte er das Grab von Rainier Müllerschön gefunden.
Er war jedoch nicht der Einzige, der diesen Erfolg vermelden konnte.
»Guten Tag«, sagte Seifferheld. Hätte er einen Hut getragen, hätte er ihn angehoben, aber er war hutlos unterwegs.
»Guten Tag.« Die Frau klang erstaunt, wenn auch nur milde. In ihrem Alter staunte man im Grunde über gar nichts mehr. »Ich hätte nicht erwartet, dass außer mir noch jemand Herrn Müllerschön besucht.« Sie nickte.
Seifferheld schätzte sie auf achthundert, vielleicht auch neunhundert Jahre, jedenfalls älter als Methusalem. Tiefe Furchen hatten sich in ihr wachsweißes, pergamentartiges Gesicht gegraben. Sie hielt sich aufrecht, musste sich aber schwer auf einen kunstvoll geschnitzten Stock mit Elefantenkopf aus Elfenbein stützen. Hoffentlich kamen jetzt keine Artenschützer vorbei.
Zur Jackie-Kennedy-Onassis-Gedenk-Pillendose mitFeder und schwarzem Schleier trug sie ein dunkelgraues, auf Taille geschnittenes
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