Kreuzzug
die Bahn hat einhundertzwei Sitzplätze, vier Klappsitze und vierundsiebzig Stehplätze. Hinzu kommen zwei Mann Fahrdienst. 182 Personen befinden sich wohl mindestens darin, denn an einem Tag wie heute …«
Der Ministerpräsident übernahm das Wort, bevor der Zugspitzbahner noch seine Theorie von der Sprengung äußerte. »Wir haben sämtliche Vorkehrungen getroffen, dass die Menschen so schnell wie möglich gerettet werden können. Zu besonderem Dank verpflichtet sind wir dem Bundesverteidigungsminister von Brunnstein und seiner Bundeswehr, die die Rettungsarbeiten tatkräftig unterstützt. Philipp von Brunnstein, bitte.«
»Sehr verehrte Damen und Herren. In einer solchen Situation zeigt sich wieder einmal – und ich sage das mit aller Aus- wie Nachdrücklichkeit –, wie überaus wertvoll eine gut ausgebildete und ausgerüstete Armee ist. Ich bin froh und von ganzem Herzen dankbar, dass die tapferen Männer und Frauen der Bayerischen Gebirgsjäger sofort ihren Einsatzwillen und ihre Professionalität unter Beweis zu stellen bereit waren. Wir sind mit ausreichender Personalstärke und entsprechendem Gerät ausgerückt, um die Arbeiten im Tunnel dramatisch – ich wiederhole: dramatisch – zu beschleunigen. Sie sehen, von Sicherheit nach Kassenlage kann keine Rede sein.«
»Danke, Philipp von Brunnstein, für diese erhellenden Worte. Haben Sie noch Fragen?«, wandte sich Hans-Peter Lackner wieder an die Journalisten. »Wenn ja, dann bitte einzeln. Fünf Minuten haben wir noch.«
»Aber natürlich haben wir Fragen.« Der Mann von der BILD war am schnellsten. »Wie lange, glauben Sie, dauert die Rettung? Glauben Sie, dass es Überlebende gibt? Und wie kann so etwas passieren?«
»Alles Fragen, auf die wir derzeit noch keine gesicherten Antworten haben. Aber seien Sie zu einhundert Prozent versichert, dass wir …«
Der Ministerpräsident unterbrach seine Rede. Er bemerkte, dass sein Publikum ihm nicht mehr folgte. Die Augen der Journalisten und die Kameras im Hintergrund richteten sich auf die Leinwand hinter ihm. Er bewegte ein paarmal still den Mund, dann drehte er sich um, um zu sehen, was dort hinter ihm geschah.
Die Kartenansicht war plötzlich verschwunden. Das Bild wurde kurz schwarz, dann wieder strahlend weiß. Ein Satz bildete sich Buchstabe für Buchstabe, so als würde der Pressereferent auf seinem Laptop schreiben:
SIE LEBEN . NOCH . KLICK HIER .
»Schwablechner, was machen Sie da?«, herrschte der Ministerpräsident seinen Pressesprecher an.
»Ich mache nichts. Ich habe das Gerät nicht einmal berührt!« Zur Verdeutlichung hob Dr. Schwablechner beide Hände in die Luft und zeigte seinem Dienstherrn und den Journalisten die offenen Handflächen.
»Los, klicken Sie!«, rief die RTL -Frau Schwablechner zu. Der sah seinen Chef hilflos an. Lackner nickte und drehte sich wieder zur Leinwand um.
Schwablechner klickte auf den Link. Ein neues Fenster wurde geöffnet, die Sanduhr des Betriebssystems drehte sich. Dann war ein verwaschenes Fernsehbild zu sehen. Es zeigte eine Szenerie wie aus einem Bergwerk. Ein Stollen, in bräunlich-graues Licht getaucht. Eine starke Lichtquelle erhellte von der Seite den Stollen. Ein Mann in Camouflage und Skimaske stand vor der Kamera. Er hielt einer blonden Frau, die vor ihm mit dem Rücken zur Kamera kniete, seine kurzläufige Maschinenpistole von oben an den Kopf. Im Hintergrund war einer der vermeintlich verschütteten Züge der Zahnradbahn zu erkennen. Über das Bild wurde eine Schrift eingeblendet:
DER ZUG IST IN UNSERER GEWALT
200 – TOT ODER LEBEND
IHR HABT DIE WAHL
www. 2962 amsl.com
Dann wurde das Bild dunkel. Die Internetadresse »www. 2962 amsl.com« blieb in weißer Schrift stehen.
Für Sekunden wurde es totenstill im Konferenzraum. Dann brach Hektik aus. Die Reporter warteten nicht länger auf nichtssagende Sätze der Politiker. Sie hatten soeben selbst live miterlebt, was dort oben geschah.
Die Fernsehleute stürmten ins Freie. Sofort mussten die Kameramänner die in der Pressekonferenz gefilmten Bilder komprimieren, um sie zu ihren Sendezentralen zu schicken. In diesem Moment war
schnell
wichtiger als
hochauflösend.
Der junge BILD -Mann schrie in sein Mobiltelefon und versuchte den Chefredakteur in Berlin an den Apparat zu bekommen. Der musste die Titelseite, ach was, die drei ersten Seiten der Gesamtausgabe für diese Story frei räumen lassen.
Die TV -Reporter versuchten Sondersendungen in das laufende Programm
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