Kreuzzug
Exklusives. Also los. Worauf wartest du noch?«
Ministerpräsident Hans-Peter Lackner setzte seine Staatstrauermiene auf und öffnete die Verbindungstür ins Nebenzimmer, wo die Journalisten warteten. Zugspitzbahn-Chef August Falk saß an der Stirnseite des Raums an einem längs gestellten Tisch hinter einem Mikrofon. Daneben zwei leere Plätze, ebenfalls mit Mikrofonen. Vor jedem Mikrofon wies ein improvisiertes Namensschild die Plätze an: Lackner, Falk, von Brunnstein. In der Mitte des Raums stand ein Projektor, der mit dem Laptop des Pressereferenten Dr. Martin Schwablechner verbunden war. Er projizierte wieder die topografische Karte des Zugspitzmassivs an die hinter den drei Männern herabgelassene Leinwand.
Auf der anderen Seite des Raums hatten sich die beiden Kameraleute postiert. Der Reporter des Lokalblattes knipste mit einer kleinen Digitalkamera, als ginge es um sein Leben. Der örtliche Radiomann legte sein Aufnahmegerät vorn auf den Tisch mit den Mikrofonen.
Die Politiker durchmaßen den Konferenzraum und setzten sich rechts und links neben Falk.
Kapitel siebenundzwanzig
Zugspitzbahn , 14 Uhr 55
W em im Zug noch nicht klar gewesen war, dass er sich in der Gewalt von Schwerverbrechern befand, wusste es jetzt. Ein Maskierter stieg durch eine der Seitentüren ein und ging, die Fahrgäste musternd, durch die Reihen. Vor einer blonden Snowboarderin blieb er stehen. Obwohl er fast zehn Meter entfernt saß, sah Thien die Angst in den Augen des Mädchens, das er auf siebzehn, achtzehn Jahre schätzte. Der Maskierte musterte sein Opfer von oben bis unten. Dann packte er wortlos den langen blonden Pferdeschwanz, riss daran, dass das Mädchen laut aufschrie, und zog sie hinter sich her zur nächsten Tür. Er drängte sie durch die Öffnung. Sie wimmerte vor Schmerz und Entsetzen. Als sie starr vor Angst neben dem Zug auf dem Gleisbett stehen blieb, sprang er hinterher. Er packte sie am Arm und führte sie an Thiens Fenster vorbei hinter den Zug. Niemand im Zug protestierte.
Nach wenigen Minuten brachte der Mann das Mädchen zurück. Er ließ sie in den Wagen einsteigen und kletterte hinterher. Dann führte er sie zu ihrem Sitzplatz und stieß sie auf das Polster. Er sah ihr noch einmal in die Augen. Dann drehte er sich um, verließ den Zug wieder und ging nach vorn, wo wohl mehrere seiner Kumpane auf ihn warteten. Das Mädchen saß wie erstarrt auf seinem Platz.
Das Mädchen erinnerte Thien an Sandra. Nicht dass da eine allzu große Ähnlichkeit gewesen wäre, und außerdem hatte Sandra dunkelbraunes und kein blondes Haar. Aber die Augen waren von einem ganz ähnlichen Hellbraun; Rehkitzbraun hatte Thien es bei Sandra immer genannt. Das hatte ihr gefallen. Ihr hatte alles an ihm gefallen, damals, als sie sich in Whistler kennengelernt hatten. Zu kitschig, um wahr zu sein, dachte Thien.
Die beiden Ski-Cracks, die räumlich so nahe beieinander aufgewachsen waren, er in Partenkirchen, sie in Mittenwald , keine zwanzig Kilometer, aber ein Gebirge voneinander entfernt. Und in Kanada, an der Pazifikküste, auf der anderen Seite der Erde, liefen sie an diesem Tag einander in die Arme. Sie hatten nebeneinander vor dem Lift angestanden. Allein das war schon ein unglaublicher Zufall, denn das Blackcomb-Mountain-Skigebiet war das größte Nordamerikas, und Schlangen vor dem Lift waren dort eigentlich unbekannt. Doch der Sessellift hatte eine Panne, und so standen sie fünfzehn Minuten Seite an Seite. An ihrem Outfit und den Ski erkannten sie sich sofort als Tiefschneeprofis.
Sandra sprach ihn auf Englisch an, aus dem er einen bayerischen Einschlag hörte. Sie staunte nicht schlecht, als ein Asiat ihr in bayerischer Mundart antwortete, und das nicht in einem Bayerisch, das irgendwo im Norden oder Osten des Freistaats gesprochen wurde, sondern in einem, das sie sehr gut kannte. Die Welt war klein, stellten sie fest, während sie einander von ihren Hobbys erzählten, und sie waren verblüfft, dass sie beide vorhatten, vom Skifahren und Fotografieren zu leben.
Beide hatten erst kurz zuvor die Schule beendet. Sandra hatte die Sankt-Irmengard-Mädchen-Realschule in Garmisch besucht und Thien das Werdenfels-Gymnasium. Er war drei Jahre älter als sie, daher waren sie sich nie begegnet. So klein die Welt für Globetrotter war, die sie sich zu werden anschickten, so groß und unübersichtlich konnte das Werdenfelser Land sein. Den Nachmittag hatten sie mit ein paar steilen Powder-Abfahrten verbracht und sich dabei
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