Krieg der Sänger
aus
Reinmars toten Augen liefen.
Eng an die Wand zu seiner Rechten gedrückt, entdeckte er jetzt
Agnes. Im Gegensatz zu allen anderen Gesichtern drückte ihres keinerlei Regung
aus. Ihre Züge waren so steinern wie die der Gottesmutter, neben der sie stand.
Halb hatte Biterolf erwartet, sie würde ihm nach ihrer sträflichen Nacht mit
Heinrich von Ofterdingen weniger begehrenswert erscheinen, halb hatte er es
erhofft. Aber das Gegenteil war der Fall.
Als Wolfram auf den neuen Bund zu sprechen kam; darauf, wie Christus
die Sünden der Menschheit auf sich nahm, um den Rechtgläubigen und den
Bußfertigen das ewige Leben zu schenken, da fühlte sich Biterolf abermals an
seine eigene Lage erinnert; an den törichten Wettkampf der Dichter, der ihn das
Leben kosten könnte. Also betete er zur Heiligen Jungfrau, ihre schützende Hand
über ihn zu halten, ihm wenigstens in den nächsten Stunden diese weibische
Angst vor dem Tode zu nehmen – und er empfahl Gott seine sündhafte Seele,
sollte er in der Prüfung unterliegen.
Plötzlich legten sich Finger um seine Hand, kalt wie der Tod. Ohne
ihn anzusehen, hatte Dietrich seine Hand ergriffen, um des Beistands oder um
der Wärme willen. Biterolf ließ es nicht ohne Befremdung geschehen, und bis zum
Opfermahl wurde der Händedruck nicht gelöst.
Er wartete mit dem Schlucken, bis sich die Hostie ganz und gar
zwischen Zunge und Gaumen aufgelöst hatte. Die Bewohner der Burg drängten nun
geschlossen zum Altar, um den Leib Christi zu empfangen, und Biterolf konnte
sich nur mühsam den Weg zurück zu seinem Platz bahnen.
»Ich muss mit dir sprechen«, flüsterte ihm Dietrich zu.
»Was gibt es?«
»Nachher«, erwiderte der Adlatus und zwang sich ein Lächeln ab.
Das eigentliche Gedränge setzte erst nach dem Segen ein. Denn noch
begehrter als die Hostien waren die Münzen, die der Landgraf zur Feier der
Heiligen Nacht am Kirchportal an seine Gefolgschaft austeilte. Als Hermann und
Sophia die Kapelle Hand in Hand verlassen hatten, begann ein Gerangel um die
ersten Plätze in einer langen Schlange. Niemand wollte leer ausgehen. Biterolf
und Dietrich erhoben sich von ihren Bänken.
»Was gibt es?«, fragte Biterolf erneut.
»Lass uns auf deine Stube gehen«, sagte Dietrich.
»Hat das bis morgen Zeit? Ich bin hundemüde.«
»Es ist wichtig.«
»Ich singe morgen um mein Leben.«
»Genau darum geht es.«
Biterolf wollte nachfragen, aber Dietrich gebot ihm mit einer Geste
zu schweigen. Er sah sich wachsam um, aber im allgemeinen Aufbruch schenkte eh
niemand ihrem Gespräch Beachtung. »Geh du vor, ich komme nach«, flüsterte
Dietrich.
In diesem Moment kam Klara auf die beiden zugelaufen. »Ich muss mit
dir sprechen«, sagte sie zu Biterolf.
»Verschwinde, Klara«, versetzte Dietrich.
»Was ist denn das für ein Tonfall in der Heiligen Nacht? Es ist
dringend. Wirklich.«
»Herrgott, was soll diese plötzliche Geheimniskrämerei?«, zischte
Biterolf.
Mit dem Zeigefinger winkte Klara Biterolf zu sich herab, bis sein
Ohr auf Höhe ihres Mundes war. »Ich kann bestimmen, wann du singen wirst«,
flüsterte sie. Biterolf war mit einem Mal hellwach. Klara zog ihn an seinem
Kragen noch etwas näher zu sich. »In deiner Kammer. Da sind wir ungestört. Wenn
irgendjemand davon erfährt, bin ich geliefert.«
»Und Reinmar?«
»Wollte eigentlich noch in den Stall, mit den Tieren sprechen«,
antwortete sie und machte eine Geste, Reinmars Geisteszustand anzudeuten.
»Weißer Kopf heißt noch lange nicht weiser Kopf. Aber ich hab’s ihm ausgeredet.
Also hat er sich schlafen gelegt und mich für heute entlassen.«
Dann ging sie vor. Biterolf und der Adlatus des Schreibers sahen ihr
nach. »Können wir jetzt?«, fragte Dietrich.
»Du musst warten«, antwortete Biterolf. »Es tut mir leid, aber
Klaras Anliegen ist wirklich wichtig.«
»Kann ich mitkommen?«
»Nein. Du kannst …« – Biterolf sah sich um –, »… hier warten. Warte
hier, und ich komme zurück, sobald ich das andere geklärt habe.«
Dietrich schien nicht glücklich über diesen Vorschlag.
»Es ist der Heilige Abend«, sagte Biterolf. »Nutz die Zeit zum
Beten. Zünd eine Kerze an.«
Dietrich nickte. »Aber beeil dich.«
Die kleine Gestalt von Klara war längst nicht mehr zu sehen.
Biterolf eilte ihr nach, vorbei an Wolfram und Walther, wie immer
unzertrennlich, und vorbei am müden Ofterdinger und seinem Knappen, der einen
Rosenkranz betete. Draußen vor dem Portal hielt der tugendhafte Schreiber
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