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Krieg der Sänger

Krieg der Sänger

Titel: Krieg der Sänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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Unser Anspruch hingegen muss delectare et
docere sein, das Publikum gleichermaßen zu unterhalten und zu bilden!«
    In der Bibliothek suchte der Kanzler die Abschrift von Biterolfs
Alexanderlied heraus und übergab sie diesem. Es war mit anderen Schriften in
einem Buch gesammelt, dessen Holzdeckel mit einfachem, ungeprägtem Rindsleder
überzogen waren. Biterolf war erfreut, die Kopie seines Werkes akkurat und
vollständig zu finden. Er bat um Pergament, und der Schreiber versprach,
Dietrich damit zu schicken.
    Der Adlatus des Schreibers war weitaus weniger redselig als in den
drei Tagen zuvor. Er rügte Biterolf dafür, ihm nicht Bescheid gegeben zu haben
vom Fest des Gesindes, auf dem es ja, wie er gehört habe, hoch hergegangen sei.
Auch Dietrich kannte das Alexanderlied, aber Biterolfs Fragen, welche Stellen
daraus ihm am besten gefallen hätten und welche er daher für den Vortrag
empfehle, antwortete er nur einsilbig.
    Als Skriptor war Dietrich jedoch eine unschätzbare Hilfe. Biterolf
diktierte als Gedächtnisstütze für den kommenden Tag die Reihenfolge der
Episoden und die jeweils ersten Zeilen jeder Strophe. Dietrich schrieb sie
nieder und verlangte, als die Abschrift der Auszüge beendet war, nur eine
Gegenleistung: Er wünschte, bei der mitternächtlichen Christmette neben
Biterolf sitzen zu dürfen.
    Den Rest des Tages und den Anfang der Nacht verbrachte Biterolf
damit, die abgeschriebenen Passagen zu memorieren und zu proben. Als die
Glocken der Kapelle ihn und die anderen Bewohner zum Gottesdienst riefen, war
er zwar todmüde, aber er hatte das Gefühl, sich so gut auf den Sängerwettstreit
vorbereitet zu haben wie irgend möglich.
    Die kleine Kirche der Burg war überfüllt. Als Biterolf eintraf, trat
das Gesinde pflichtschuldig zur Seite, um ihm den Zugang zu einem der wenigen
Sitzplätze nahe dem Altar zu ermöglichen. Er setzte sich neben Walther und
hielt den Platz auf seiner anderen Seite frei für Dietrich, wie er es hatte
versprechen müssen. Dietrich kam erst kurz vor Beginn der Zeremonie, nach
Hermann und Sophia, blass wie der Schnee vor der Tür. Er lächelte nicht einmal
mehr.
    Beim Kyrie und beim Gloria gesellte sich Biterolfs Gesang erneut zu
dem Walthers, Wolframs, Reinmars, Ofterdingens und des Schreibers – aber die
Harmonie schien Biterolfs kundigen Ohren nur eine vermeintliche: Es war, anders
als beim Falkenlied vor ihrem Streit, kein Miteinander der Stimmen, sondern ein
bloßes Nebeneinander – ganz davon abgesehen, dass die sechs meisterlichen
Stimmen in der Kapelle von unzähligen primitiven übertönt wurden.
    Beim anschließenden Evangelium drohte Biterolf stehend
einzuschlafen. Zu sehr hatten ihn den Tag über Arbeit, Angst und Kälte
angestrengt; zu monoton war die Stimme des Kaplans bei der Lesung der allzu
bekannten Passagen aus der Botschaft des Lukas. Mehrmals musste Biterolf, um
nicht offen zu gähnen, die Kiefer so fest aufeinanderpressen, dass sein Kopf
bebte und ihm die Tränen in die Augen traten. Er hielt sich damit wach, dass er
die steinernen Heiligenstatuen auf ihren Konsolen betrachtete, linker Hand
Sankt Georg, Petrus und Paulus, rechter Hand Maria mit dem Kinde, der heilige
Ulrich, der heilige Bonifatius und noch irgendein Heiliger, den er beim besten
Willen nicht benennen konnte; und noch während Biterolf darüber nachsann, was
für ein Attribut es sein sollte, das diese Figur in ihrer Hand hielt – ein
Fisch? Ein Vogel? Ein gestürzter Kelch? –, war der Burgkaplan endlich bei der
Preisung der Hirten angelangt. Wer Platz auf einer Bank ergattert hatte, durfte
sich setzen. Felle lagen bereit, um sie über die Beine zu legen.
    Dann bat der Kaplan Wolfram, wie verabredet, um die Auslegung des
Evangeliums. Wolfram sprach vom Trost der Sakramente, von der väterlichen Liebe
und der Gnade Gottes und vom Segen seines ewigen, fleischgewordenen Wortes.
Wolframs sonore Stimme füllte das ganze Gotteshaus, und seine starken,
bildhaften Worte über Christi Geburt – stets verknüpft mit der Ahnung seines
frühen und qualvollen Todes am Kreuz, der ihm schon vorherbestimmt war, als er
in der Krippe zu Bethlehem schlief – vertrieben die Müdigkeit vollends.
Wolframs Rede war frei gehalten und wirkte dennoch wie in wochenlanger Arbeit
zu Pergament gebracht. Sie rührte jedermann. Jetzt verstand Biterolf, woher
Wolframs Beiname vom Mönch im Kettenhemd kam. Die Landgräfin lächelte selig.
Ein Schauer fuhr Biterolf durch die Glieder, als er sah, wie zwei Tränen

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