Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Krieg der Sänger

Krieg der Sänger

Titel: Krieg der Sänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
Vom Netzwerk:
Grube gezogen und auf festen Boden gestellt. Durch
den Schleier von Brühe vor seinen Augen konnte er kaum ausmachen, wer sein
Retter gewesen war – Hermann, Pfalzgraf von Sachsen, kein bisschen weniger
verschmutzt als er –, dann nahm ein anderer ihn an der Hand und zerrte ihn aus
dem Keller und nach draußen, fort vom Unglücksort, um Platz zu schaffen für die
Helfer, die mit Händen, Seilen und Leitern versuchten, die Elenden aus der
Grube zu schöpfen wie Fleischbrocken aus einem Eintopf.
    Heinrich wurde von seinem Führer in den Hof der Burg gestoßen, wo
bereits andere Überlebende saßen und lagen, und dann sich selbst überlassen.
Das Gesinde hatte Wichtigeres zu tun, als Wasser zum Waschen herbeizutragen,
weshalb es Heinrich und die anderen dulden mussten, dass die Sommersonne die
Jauche auf ihrer Haut trocknete, von wo man sie bald wie Lehm abbröckeln
konnte. Bis auf das Hemd hatte Heinrich alles ausgezogen, auch die Schuhe, und
wollte nichts davon je wiedersehen. In der Zwischenzeit war die größte Leiter
besorgt und von außen gegen das Fenster gelehnt worden, hinter dem der König
stand. Dann öffnete Heinrich  VI . das Fenster und
kletterte langsam hinab, vom Erzbischof gefolgt; ein banales Schauspiel, das
alle Anwesenden stumm verfolgten.
    Etwa eine Viertelstunde nachdem der Boden gebrochen war, hatte der
letzte Lebende die Grube verlassen. Nun wurden die Erschlagenen, Ertrunkenen
und Erstickten geborgen und zu Dutzenden nebeneinander aufgereiht. In einer
Menschenkette wurde vom Brunnen Wasser in Eimern herbeigebracht, um die Toten
und die Lebenden zu waschen. Heinrich verlangte mehrmals neues Wasser, denn
sosehr er sich auch schrubbte und spülte, stets fand er noch irgendwo ein
Klümpchen Kot verborgen, sei es in seinen Haaren, hinter den Ohren, im Schritt.
Erst als er vollkommen frei von den Spuren des Jauchebades war, wohlriechend
und am ganzen Körper rot gescheuert, übergab er sich.
    Der Latrinensturz zu Erfurt beendete das Leben von fünf Grafen
und sechsundfünfzig Geringeren. Neun davon fanden sich erst Tage darauf,
grotesk konserviert, als das Unglückshaus eingerissen und die Abtrittgrube leer
geschaufelt wurde. Zum Bedauern des Erzbischofs hatte Ludwig von Thüringen den
Sturz überlebt. Der Streit zwischen den beiden, wegen dessen Schlichtung der
König nach Erfurt gekommen war, wurde indes nie beigelegt, weil Heinrich  VI ., bestürzt von den Ereignissen, bereits am folgenden
Tag die Stadt verlassen hatte.
    Ludwig von Thüringen hatte überlebt, sein Kanzler aber war in den Exkrementen
ertrunken, weshalb dessen Adlatus, Heinrich von Weißensee – obwohl eigentlich
zu jung für diese Aufgabe –, zu seinem Nachfolger bestimmt wurde. Und weil er
sich in dieser Stellung durchaus bewährte, blieb Heinrich auch Kanzler, als
Ludwig während des Kreuzzuges starb und sein Bruder Hermann der neue Landgraf
der Thüringer wurde. Heinrichs Treue zu Hermann übertraf selbst seine Treue zu
Ludwig: Nicht einen Tag vergaß der tugendhafte Schreiber, wer ihn seinerzeit
aus der Scheiße gezogen hatte.
    Denn an den Sturz in die Grube wurde der Schreiber tagtäglich
erinnert, wann immer er Kot roch oder sah, ob auf dem Abort oder in den
schmutzigen Gassen von Eisenach. Selbst vor seinen eigenen Exkrementen ekelte
er sich. Wann immer er seine Notdurft verrichtete, vergrub er die Nase in der
Beuge seines Arms. Wann immer er sich den Hintern wischte, nahm er, so viel
Stroh er fassen konnte. Der bloße Gedanke an den Keller in Erfurt ließ ihn
würgen und den Schweiß auf seine Stirn treten. Er, Heinrich von Weißensee, war
einer der wenigen Menschen gewesen, denen Gott erlaubt hatte, die Hölle zu
sehen und ins Leben zurückzukehren. Die Hölle war nicht Flammen und Brand:
Brennende Kohlen, brennendes Holz roch viel zu gut; ja selbst verbranntes
Menschenfleisch roch nicht unbedingt übel. Auch Schwefel konnte man ertragen,
wenn es denn sein musste. Nein, die Hölle roch nicht nach dergleichen Dingen.
Die Hölle roch nach abgestandenen Exkrementen. Das war die Qual der Hölle: in
einem uferlosen Pfuhl aus Kot und Leichen bis in die Ewigkeit mit anderen
Sündern darum zu kämpfen, den Kopf oben zu halten.

25 . DEZEMBER
HEILIGER CHRIST
    Noch vor Sonnenaufgang wurden Biterolf und Klara durch
Schläge an die Tür geweckt. Biterolf öffnete und ließ den tugendhaften
Schreiber herein. In der Hand hielt er eine Talglampe. Sein Blick fiel auf
Klara, als diese sich dem Licht zuwandte.
    »Zumindest dich gibt

Weitere Kostenlose Bücher