Krieg der Sänger
Reinmar gab
Biterolfs Hand lange nicht frei, und während sie Hände hielten, bedauerte der
Alte, bislang nicht mehr von seinem jungen Sangesbruder gehört zu haben als
das, was der tugendhafte Schreiber berichtet habe. Er beteuerte aber, Biterolfs
Lieder bald hören zu wollen, denn seine schöne Stimme lasse bereits Großes
erwarten.
Zunächst wollte Reinmar aber das Pferd aufsuchen, das so viel
Aufregung verursacht hatte. Dietrich riet davon ab, dem Tier zu nahe zu kommen,
falls sein Blutdurst noch nicht gestillt sei, aber Reinmar versicherte,
einerseits keine Angst um seine Finger zu haben und andererseits ein gutes
Händchen mit Tieren. Sein Mädchen grinste nur. Offensichtlich freute es sich
auf die Begegnung ihres Meisters mit der Mordmähre.
Als Reinmar im Stall Wolframs Leute bat, ihm das fingerfressende
Pferd zu weisen, gaben seine Begleiter stumm zu verstehen, dass man gerade das
aus Sorge um das Wohl des Alten nicht tun solle.
Biterolf schlug gestisch vor, dass für den Augenblick das benachbarte Pferd,
also Walthers Pferd, diese Rolle einnehmen solle. Dorthin führte Klara ihren
Herrn also.
»Seid ihr jetzt überzeugt, dass eure Sorge um mich unnötig war?«,
fragte Reinmar, als er Walthers sanftmütiger Stute mit der einen Hand Heu unter
das Maul hielt, während er ihr mit der anderen den Hals streichelte. »So ein
liebes Tier. Weshalb musstest du diesem groben Thüringer in die Hand beißen,
sag?«
»Wir werden es nie erfahren«, sagte Wolframs Knappe.
»Vielleicht doch. Jetzt in den Zwölf Nächten besitzt das gemeine
Vieh die Gabe der menschlichen Sprache. Wer es wagt, der kann sich mit ihm
unterhalten.«
»Aber um welchen Preis. Wer die Tiere nachts sprechen hört, heißt
es, stirbt wenig später.«
»Das eine wie das andere gilt es herauszufinden«, entgegnete
Reinmar, eher an das Pferd gewandt, »wenn sich ein Mutiger findet.«
Abermals kam der Ritter in den Stall. Seine versehrte Hand war
mittlerweile mit Leinen verbunden, und ein erstes Bier hatte den Schmerzen
offensichtlich ihre Spitze genommen. »Wo ist die Bestie?«, knurrte er.
»Hier bei mir«, erwiderte Reinmar, und niemand korrigierte den
Irrtum. »Und wie Ihr seht, Herr Atze, ist es keinesfalls eine Bestie.«
»Das Tier hat mehr Dämonen in sich als Maria Magdalena«, zischte
Atze, stapfte auf Walthers Pferd zu und hielt ihm aus sicherem Abstand die
verbundene Hand unter die Augen. »Den Schwurfinger hast du mir abgebissen, du
Wolf von einem Ross! In Sachsen habe ich gekämpft, in Bayern und Italien; bis
nach Palästina bin ich gereist, habe mich vor den Mauern von Akkon den Säbeln
und Pfeilen der Sarazenen ausgesetzt, habe dabei selten mehr als einen Kratzer
eingesteckt und bin stets im Besitz sämtlicher Gliedmaßen heimgekehrt – und
jetzt soll ich dulden, dass mir daheim, quasi in meinem Hinterhof, ein gottverdammter
Klepper den Finger raubt? Das wirst du büßen. Beim heiligen Sankt Georg, das
zahl ich dir heim, du elender Satansgaul!«
Das unschuldige Tier hatte die Drohung des Ritters gleichgültig über
sich ergehen lassen und nicht einmal vom Heu in Reinmars Hand aufgeschaut.
Wolframs Pferd hingegen, auf dessen Lippen das Blut getrocknet war, hielt
Gerhard Atze fixiert, bis dieser den Stall wieder verlassen hatte.
Am Nachmittag wollte ihr Gastgeber Hermann von Thüringen sie
empfangen. Also versammelte der tugendhafte Schreiber Wolfram und Walther,
Reinmar und Biterolf in den gut geheizten Gemächern der Kemenate. Das Mauerwerk
war fast lückenlos mit schweren Vorhängen und Gobelins bedeckt. In die edlen
Teppiche waren Spezereien gerieben: Muskat, Nelken und Kardamom, die, von den
vielen Stiefeln zermahlen, den Raum mit ihrem Duft erfüllten.
Die Sänger waren unter sich. Da alle anderen einander bekannt waren,
musste der Schreiber lediglich Biterolf der Gruppe vorstellen, und er tat es
mit ähnlich lobenden Worten wie schon bei der Begrüßung im Burghof. Endlich
konnte Biterolf Wolfram und Walther die Hand geben. Ein Diener reichte heißen Gewürzwein,
mit Honig gesüßt. Über den Rand seines Bechers betrachtete Biterolf seine
beiden Leitsterne und ertappte sich dabei, Wolfram zu dick und zu alt zu
finden. Nach der Begegnung mit dessen temperamentvollem Ross überraschten ihn
der Wanst und der silbergraue Bart des Reiters, dazu blasse Augen, eine
Zahnreihe voller Lücken und ein Kahlkopf mit braunen Flecken. Walther hingegen
hatte sich gut gehalten. Abgesehen von einigen Falten um die Augen wirkte
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