Krieg der Sänger
scharf ins Auge. »Woher wisst Ihr das
so genau?«
»Wir haben ihn mit der Reuse herausgezogen.«
»Er wird sich den Kahn genommen haben«, mutmaßte der Wundarzt und
wies auf den kleinen Nachen, der umgestürzt am Ufer lag und von einer dichten
Decke aus Schnee verborgen war. »Dann ist er bis zur Mitte gerudert, um sich
dort, wo es am tiefsten ist, ins Wasser zu stürzen.«
»Aber wer hätte den Kahn dann zurückgebracht und wieder
aufgebockt?«, fragte einer der Fischer.
Erneut schwieg die Gruppe, bis der Schreiber erklärte: »Jemand
anderes wird am darauffolgenden Morgen den Kahn, der ans Ufer getrieben wurde,
aus dem Wasser gezogen haben. Ja, jetzt fällt es mir ein, dass einer der
Wachleute davon sprach. Aber in des Schöpfers ewigem Namen, hier stehen wir und
schwatzen wie die Weiber am Brunnen; sehen wir lieber zu, dass wir den
Unglücklichen auf die Burg bringen und dort aufbahren und das vermisste
Christuskind zurück in die Arme seiner Mutter tragen.« Mit diesen Worten barg
der Schreiber die Heiligenstatue in seinen Armen und trat ächzend den Rückweg
an.
Keinen der Anwesenden hatte die Theorie des Kanzlers vollends
überzeugt. Viel wahrscheinlicher sei es doch, murmelte einer der Fischer – und
die anderen pflichteten ihm bei –, dass der Teufel auf der Wartburg sein
Unwesen treibe: Schwerter des Rechts lösten sich in Luft auf, Unschuldige
wurden gemeinsam mit dem Erlöser versenkt, Vögel sprachen mit der Zunge
Verstorbener, die Sonne war vom Himmel verschwunden. Wer konnte schon wissen,
was ihnen noch bevorstand, bevor die Zwölften um waren. Würde er damit nicht
den Zorn des Landgrafen auf sich ziehen, sagte einer der Männer, er hätte
längst Zuflucht in Eisenach gesucht.
Es war noch früh, nicht einmal Mittag, und Biterolf beschloss, nun
endlich Agnes zu suchen. Aufs Geratewohl folgte er einem Trampelpfad, der ihn
in südlicher Richtung von der Burg wegführte. Die Fußspuren derer, die diesen
Weg vor ihm gelaufen waren, zweigten nach und nach ab, kehrten um oder
schwanden dahin, sodass Biterolf bald seinen eigenen Pfad machen musste. Aber
das Vorankommen im Schnee fiel ihm leicht. Nur manchmal, wenn der Schnee eine
Mulde zugeweht hatte, sank er bis zu den Knien ein und musste sich mit Händen
und Füßen freikämpfen.
Er machte halt neben einem Wegkreuz, auf einem Berg der Burg
gegenüber. Während er ein Gebet sprach, die Knie im Schnee, betrachtete er den
Südturm, der den Ofterdinger verwahrte, den Bergfried, den Palas und die
wenigen Menschen auf den Wehrgängen. Es war still bis auf das Wispern des toten
Laubes an den Bäumen. Biterolf war warm geworden. Er beglückwünschte sich zu
dem Entschluss, die Burg zu verlassen, und setzte seine ziellose Wanderung
fort, zu der die Suche nach Agnes nur ein Vorwand gewesen war. Er folgte einem
Wildwechsel tiefer in den Wald hinein und bergab, bis er an den zugefrorenen
Marienbach stieß. Dieser Bach – das wusste er von Dietrich – kam direkt aus der
Drachenschlucht, einer unpassierbar engen Klamm, weswegen Biterolf, statt dem
Lauf des Baches in die Sackgasse zu folgen, den Hügel auf der anderen Seite
emporstieg, um seinen Weg auf dessen Kamm entlang der Drachenschlucht
fortzusetzen.
Bevor er den Mann sah, sah er die Axt. Ihre Klinge steckte
waagerecht im Stamm einer jungen Buche, und auf ihr wie auf dem Schaft hatte
sich fingerdick der Schnee gesammelt. Was unweit davon lag, musste also die
Leiche des Fleischhauers sein, der den Gang nach Buchenholz, Walthers Pferd
damit zu räuchern, mit seinem Leben bezahlt hatte. Viel war von Rüdiger nicht
mehr zu erkennen: Biterolf sah herab auf ein Aas, der Häute bar. Wölfe hatten
ihm das Fleisch von den Rippen gerissen, und die unzähligen Fährten von und zu
dem Leichnam belegten, wie viele Tiere über die Tage gekommen waren, um sich
wieder und wieder daran satt zu fressen. Das offene Gerippe hatte so wenig
Ähnlichkeit mit einem Menschen, dass Biterolf dieser Anblick nicht annähernd so
erschütterte wie der Anblick von Dietrichs Leiche. Das Rückgrat und die Rippen,
die von dem Fleischhauer übrig geblieben waren, sahen aus wie der Kiel und die
Spanten eines Schiffes im Bau.
Indem Biterolf einen Fuß gegen den Buchenstamm stemmte, konnte er
die Axt aus dem Holz ziehen. Sie wollte er zurückbringen auf die Wartburg, um
den Tod des Fleischhauers zu bezeugen.
Ihm gegenüber, keine fünf Schritte entfernt, stand ein Wolf.
Biterolf hatte ihn nicht kommen hören. Sein Herz setzte einen
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