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Krieg der Sänger

Krieg der Sänger

Titel: Krieg der Sänger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Löhr
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befand, war so schmal, dass kaum zwei Männer nebeneinander hätten
stehen können. Die Wände der Klamm waren komplett mit Eis bedeckt, von einer
Myriade von Eiszapfen übereinander, ein einziger erstarrter Wasserfall: Was
immer an Wasser in den letzten Tagen die Hänge hinabgeflossen war, war auf dem
Weg nach unten gefroren. Unter Biterolfs Füßen lag der zugefrorene Marienbach,
der die Schlucht in den Fels geschliffen hatte. Biterolf war von drei Seiten
von Eis umgeben. Nach rechts und links konnte er jeweils einige Schritte durch
die Klamm gehen, bis die Felswände – respektive das Eis, das sie überzog – so
eng beieinanderlagen, dass kein Durchkommen mehr war.
    Wenn er den Kopf in den Nacken legte, sah er einen schmalen Streifen
Himmel. Er schätzte, dass ihn und den Wolf etwa acht Klafter trennten. Aber um
wieder nach oben zu kommen, hätte es Steigeisen gebraucht. Biterolf war
gefangen in einem Verlies aus Eis. Er kam sich vor wie der Protagonist einer
antiken Fabel: Um einem Wolf zu entkommen, war er in einen Brunnen gesprungen.
Er blutete im Nacken und aus einer Wunde am Kopf, die ihm beim Sturz die
Felswand geschlagen hatte. Immerhin war ihm der Wolf nicht in den Brunnen
gefolgt.
    Der Schweiß an seinem Körper kühlte sich allmählich ab. Biterolf
leerte den Schnee aus den Stiefeln, schnürte alle Gewänder, so fest er konnte,
und zog sich die Mütze tief ins Gesicht. Frieren sollte er so bald nicht. Er
rief einige Male um Hilfe, jedes Mal ein wenig lauter, aber er wusste ja
selbst, dass dort oben niemand in Rufweite war. Noch nicht.
    Natürlich würde man nach ihm suchen. Schließlich wusste der
tugendhafte Schreiber ja, dass er in den Wald gegangen war. Bis dahin
allerdings konnte viel Zeit verstreichen. Biterolf wollte sie nicht ungenutzt
lassen: Wenn er sich vorher schon aus eigener Kraft befreien könnte, umso
besser. Er erwog, den Kamin aufwärtszuklettern, aber das Eis war schlichtweg zu
glatt, und noch einmal stürzen wollte er nicht. Also musste er sich seinen Weg
am Grund der Felsspalte bahnen, durch die Vorhänge aus Eis hindurch.
    Er entschied sich für den Weg stromabwärts. Er zog sein Messer aus
dem Gürtel und begann, auf die Eiszapfen einzuhacken. Es war fraglos eine
langwierige Arbeit. Biterolf wünschte, er hätte noch die Axt bei sich, und ärgerte
sich gleichzeitig darüber, dass ihm nicht eingefallen war, gegen den Wolf das
Messer zu benutzen, mit dem es ein Leichtes gewesen wäre, die Bestie
niederzustechen.
    Als das Loch im Eis groß genug war, zwängte er sich hindurch.
Schwierig waren nur die Schultern. Auf der anderen Seite des Engpasses kam er
gut voran – mal laufend, mal kriechend. Er beglückwünschte sich zur Wahl der
Richtung, bis die Felsspalte mit einem Mal so eng wurde, dass auch eisfrei kein
Durchkommen möglich wäre. Biterolf blieb keine Wahl, als den Weg zurückzugehen,
seinen Körper abermals durch das geschlagene Loch zu winden und sein Glück dann
auf der anderen Seite zu versuchen.
    Schon bei den ersten Hieben brach die Klinge. Die Einzelteile des
Messers waren nutzlos für seine Zwecke, und mit den bloßen Händen war nichts zu
erreichen. Biterolf war also gezwungen, erneut den kurzen Gang zwischen den
beiden unpassierbaren Barrieren abzulaufen und zu prüfen, ob es irgendwo einen
Abschnitt gab, der besonders dazu geeignet war, den Fels zu erklimmen. Es gab
keinen. Die Wände der Schlucht waren überall gleich steil und eisig.
    Er unternahm einige Versuche, wie ein Kaminkehrer aufwärtszusteigen,
den Rücken gegen die eine Wand gestemmt und die Füße gegen die
gegenüberliegende, aber jeder dieser Versuche endete damit, dass er mit dem
Hintern im Schnee landete. In Biterolfs Kopf ertönte das Saitenspiel von
Wolframs Singerknabe: Jene mal meckernden, mal lachenden Klänge der Fiedel
untermalten in seiner Vorstellung jetzt seine fruchtlosen Bemühungen, die
Schlucht zu verlassen.
    Als letztes Mittel blieb ihm seine Stimme. Er musste um Hilfe rufen.
Trotz aller Todesangst war er immer noch besonnen genug, mit Technik zu
brüllen, also aus dem Leib heraus, nicht aus dem Kopf, wie es ihm seine Lehrer
beigebracht hatten, um die Stimme zu schonen. Außerdem rief er nicht am Stück,
sondern machte nach jedem Ruf eine lange Pause, um selbst zu horchen. Erst nach
einer guten Stunde warf er alle Regeln über Bord und schrie wie am Spieß, ohne
Pausen und ohne Rücksicht auf Technik und Würde, mit dem Resultat, dass er bald
gar keinen vernünftigen Laut mehr

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