Krieg der Sänger
bevor die Klauen des Morgens vollends die Wolken zerreißen, ein letztes
Mal zu lieben; um Mund, Brust, Arme und Beine ineinander zu verflechten: zwei Herzen, aber ein Leib.
Wolframs wollüstige Verse und die Nähe zu Agnes hatten ihn erregt.
Nichts hätte er sehnlicher getan, als sie augenblicklich zu wecken und sie zu
bitten, mit ihm zu schlafen, aber er wollte sich nichts verderben. Er befreite
ein Bein von den Decken und Fellen und presste den Fuß so lange gegen das kalte
Mauerwerk, bis seine Erregung abgeklungen war. Nicht einmal einen Kuss gönnte
er sich auf die schlafenden Lippen. Lediglich durchs kastanienbraune,
wacholderduftende Haar strich er ihr, bis sie erwachte.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
»Ausgezeichnet«, krächzte er. Er hatte noch immer keine Stimme, aber
zumindest das Flüstern gelang ihm wieder.
Sie lächelte, und dieses Lächeln genügte, dass Biterolf seinen Fuß
abermals an die kalte Wand drücken musste.
»Was hast du gestern im Wald gemacht?«, fragte er.
»Das weißt du doch«, sagte sie. »Reisig gesammelt. Und einige
Schlehenzweige, gegen die Hexen.«
»Gestern Abend, an der Wegkreuzung: Da sollte ich alleine weiter.
Weil du auf jemanden warten wolltest.«
Sie erwiderte nichts, aber Biterolf sah ihr an, dass er sie ertappt
hatte.
»Ich war vorhin kurz auf und habe neues Holz aufs Feuer gelegt«,
fuhr Biterolf lächelnd fort, »und in deinem Reisigbündel verborgen fand ich ein
Brecheisen, ein Seil, ein Messer und zwei Dietriche.«
Agnes’ Miene verfinsterte sich. Sie rückte von Biterolf ab, sodass
er, der auf keinen Fall wollte, dass sie das gemeinsame Lager verließ,
nachsetzte: »Ich will dir nur Gutes, Agnes. Umso mehr, nachdem du mir gestern
das Leben gerettet hast. Sag es mir: Wann wolltest du seine Tür mit diesen
Geräten aufbrechen?«
»Ich werde gar nichts tun«, antwortete sie. »Selbst wenn es mir
gelingen würde, die Wache zu überwältigen und die Zellentür zu öffnen, weiß ich
noch immer nicht, wie ich die Wartburg unbemerkt verlassen sollte. Ich hätte
die Werkzeuge in den Wald werfen sollen, oder besser noch, ich hätte sie gar
nicht erst annehmen dürfen.«
»Von wem hast du sie?«
»Ich war in der Stadt beim Hellgrevenwirt, wo man mich kennt. Er und
zahlreiche andere Bürger sind empört über die Strafe, die über Heinrich von
Ofterdingen verhängt wurde, aber es mangelt ihnen offensichtlich an Mut, selbst
etwas dagegen zu unternehmen. Also haben sie mir unter dem Siegel der
Verschwiegenheit Eisen und Diebesschlüssel mitgegeben, falls sich eine
Gelegenheit ergibt. Aber so eine Gelegenheit wird sich nicht ergeben. Ich weiß
nicht, was ich mir dabei gedacht habe. Ich weiß nicht, weswegen ich überhaupt
nach Eisenach gegangen bin. Ich weiß überhaupt nichts mehr.«
»Außer, dass du Heinrich vorm Richtschwert retten willst.«
»Dass ich eine Nacht mit ihm verbracht habe, hat nichts damit zu
tun.«
»Sondern?«
»Eine Stimme wie die seine darf nicht verstummen. Ich will das Ende
seines Nibelungenliedes hören. In all dem höfischen Gesäusel und der
pfäffischen Salbaderei ist Heinrich der einzige Sänger, der immer die Wahrheit
gesungen hat. Auch wenn sie manchmal wehtut.«
»Heinrichs Wahrheit tut immer weh. Und das Ende ist immer der Tod.«
»Wie im Leben.«
»Was erhebt Heinrich eigentlich über einen Richterspruch?«, fragte
Biterolf und wurde dabei lauter, als es sein Kehlkopf erlaubte. »Seine Kunst?
Seine Selbstgefälligkeit? Er hat sich aus freien Stücken auf diesen Wettstreit
eingelassen, mehr noch: Er hat ihn forciert. Er hat freiwillig sein Leben
eingesetzt.«
»Das mag sein«, sagte sie, »aber hat es dich nie stutzig gemacht,
dass Reinmar ausgerechnet ihn verurteilt hat und schlechtere Sänger verschont?«
» Schlechtere Sänger? Wie zum Beispiel
mich?«
»Zum Beispiel.«
Hierauf schwieg Biterolf, den schon das wenige Sprechen angestrengt
hatte. Agnes hielt seinem Blick stand, bis er die Augen abwendete und sich seufzend
auf den Rücken drehte. Das Schlucken schmerzte.
»Kann ich die Werkzeuge bei dir lassen?«, fragte sie. »Bei Tag kann
ich das Eisen nicht unbemerkt durch die Burg tragen.«
Biterolf nickte. Sie schlug die Decke zur Seite und stieg aus dem
Bett, um sich anzuziehen. Diesmal sah er nicht zu.
»Du hast meine Rufe gehört«, sagte er nach einer Weile. »Was hast du
so nahe bei der Drachenschlucht gemacht? Eisenach liegt in der
entgegengesetzten Richtung.«
»Ich war an der Kreuzung am Fuß der
Weitere Kostenlose Bücher