Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
meinem Heimatdort stammt. Sein Bruder war mein Gymnasiallehrer. So klein ist dieses große Land. Die Stimmung ist großartig. Auf dem Platz stehen mehrere ausgebrannte Autos, in die Müll geworfen wird. »Nationaldemokratische Partei« – der Name von Mubaraks Staatspartei – steht darauf und: »Bitte eine kleine Spende«. Ein spaßiges Volksfest, überwacht von Kampfflugzeugen. Manche tanzen und singen, andere hören Popmusik aus Kassettenrekordern, andere veranstalten Kabarettwettbewerbe, um Mubarak lächerlich zu machen. Einige Demonstranten malen Mubarak als Teufel und veranstalten ein Austreibungsritual. Es ist sehr lustig, aber ich mache mir Sorgen, dass wir unsere Probleme komplett auf Mubarak projizieren und ihn als Teufel und Urquelle des Übels titulieren. Wir haben quasi die Amerikaner und die Israelis gegen Mubarak ausgetauscht. Was, wenn Mubarak nun geht? Er ist spätestens seit dem 28. Januar abgewählt. Was tun wir, wenn er weg ist? Raffen wir uns dann zusammen und bauen das Land wieder auf, oder suchen wir nach einem weiteren Sündenbock, den wir für alles verantwortlich machen? Bauen wir eine Demokratie auf, oder gehen wir aufeinander los wie einst die Libanesen und die Iraker? Trotz meiner Skepsis muss ich am Abend im Interview mit dem »Heute Journal« kräftig für den Sturz Mubaraks werben. Meine Sorgen behalte ich für mich.
In den vergangenen Tagen bin ich mit vielen jungen Menschen ins Gespräch gekommen. Ich interessiere mich für ihre gesellschaftliche Herkunft und für ihre Motive und Ziele: Der Schriftsteller, der mit der Kulturpolitik des Regimes unzufrieden ist; ein Arbeiter aus einer Tabakfabrik demonstriert gegen die niedrigen Löhne; einer, dessen Bruder mit einem sinkenden Transportschiff im Roten Meer ertrunken war und der keine Entschädigung vom Reeder bekam, wollte auf dem Platz seiner Enttäuschung Ausdruck verleihen; Angehörige von verschwundenen politischen Gefangen kamen mit Bildern ihrer Verwandten; der Universitätsabsolvent, der 16 Jahre Ausbildung hinter sich hat und keinen Job findet; eine Frau, die ihren Job im staatlichen Fernsehen kündigte, weil sie die eigene Bevölkerung nicht mehr anlügen will; ein Café-Besitzer, der gekommen war, um auf die Demonstranten zu schimpfen, weil sein Geschäft durch die Proteste schlecht ging, aber überzeugt wurde, dass die Revolution nicht gegen ihn gerichtet ist, und der nun mitmarschierte; ein arbeitsloser 45-jähriger Mann kam, um vor seinen Schuldnern zu fliehen, »zu Hause schimpfen meine Mutter und mein Bruder die ganze Zeit auf mich, alle paar Stunden klopft ein Schuldner an die Tür. Hier im Tahrir schimpft mich keiner, keine fragt mich nach meinem Job, alle geben mir Essen und Zigaretten. Und Al-Dschasira hat mich interviewt, aber gesendet haben sie es noch nicht.«
Ich frage: »Was wollt ihr?« Die Antwort eines jungen Mannes steht für viele: »Ich will leben! Ich will richtig leben!« Ein anderer sagt: »Ich will lernen. Ich will den Müll aus meinem Kopf bekommen.« Und dann erzählt er mir, warum wir dringend unser Bildungssystem reformieren müssen. Und natürlich sagen alle: »Wir wollen Freiheit!« Kaum ein Wort hörte ich häufiger als das Wort »Würde«. Auch der Begriff »Demokratie« ist rehabilitiert worden. Früher war »Demokratie« in Ägypten ein Synonym für westliche Dekadenz. Sogar die jungen Muslimbrüder sprechen jetzt von Demokratie. Natürlich gibt es da noch die alte Garde der Islamisten, für die Demokratie nach wie vor verpönt ist. Die hätten dasselbe Schicksal verdient wie Mubarak. Aber die jungen Muslimbrüder, die beim Protest mitmachen, haben auf einmal kein Problem mit Musik. Sie stehen Seite an Seite neben jungen Frauen ohne Kopftuch. Ein Islamist mit langem Bart besteht darauf, die Bühne, die gestern für Kundgebungen und Anweisungen errichtet wurde, zu besteigen. »Ich möchte ein Wort an unsere Schwester ohne Kopftuch auf dem Platz richten.« Eine merkwürdige Stimmung macht sich breit, man rechnet damit, dass er auf die Frauen schimpfen wird. Da er Anhänger der Salafisten war, die von Saudi-Arabien finanziert und gesteuert werden und dafür plädieren, Ägypten zu der reinen Lehre des Islam zurückzuführen, fürchtet man, dass er die Stimmung auf dem Platz vergiftet. »Ich möchte mich bei jeder Frau ohne Kopftuch entschuldigen, denn wir haben euch früher als unmoralische Sünderinnen bezeichnet, aber ich habe von euch auf diesem Platz gelernt, was Moral bedeutet.«
Das
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