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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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ist alles neu für junge Islamisten. Sie schauen sich um und sehen eine neue Welt, die auch sie beeindruckt. Im Moment erleben wir in Kairo eine offene Gesellschaft. Man läuft am Nil entlang und trifft keine Polizisten. Man braucht keine Angst zu haben. Die polizeiliche Willkür war so stark, dass viele sich das gar nicht mehr getraut haben. Es gab nur Ärger. Wer einen Bart hatte, galt als Islamist und wurde verhaftet. Das Kriegsrecht, das seit Mubaraks Amtsantritt in Ägypten herrscht, machte es möglich, dass jeder Bürger ohne Angabe von Gründen verhaftet und in Gewahrsam genommen werden konnte. Manche Ägypter verschwanden auf diese Weise und tauchten nie wieder auf. Eigentlich hätte diese Revolution nie stattfinden können, denn es ist gesetzlich verboten, dass sich mehr als fünf Personen auf offener Straße versammeln, wenn sie nicht zu der gleichen Familie gehören. Aber jetzt laufen diese jungen Menschen erhobenen Hauptes durch Kairo und haben vor niemandem mehr Angst. Jetzt sagen viele junge Männer: Zum ersten Mal fühle ich, dass Ägypten mein Land ist. Früher liefen sie mit hängenden Schultern durch die Stadt. Kein Job, keine Perspektive. Jetzt sind sie stolz, fühlen sich wichtig, werden gebraucht. Zu Wahlen sind sie bisher nie gegangen, die Mubarak-Partei konnte ja dank der Wahlfälschungen nicht verlieren. Aber wenn diese jungen Frauen und Männer, die sich auf dem TahrirPlatz treffen, alle zur Wahl gehen, dann haben weder die alten korrupten Eliten noch die Muslimbrüder eine Chance, die ihre Anhänger immer für die Wahlen mobilisieren konnten, während die Mehrheit der Ägypter zu Hause blieb. Dass Ägypten die erste liberale Demokratie der arabischen Welt werden könnte, ist keine Utopie. Es ist eine Möglichkeit, die mit Händen zu greifen ist.
    Am Abend wird die Rede Mubaraks live übertragen. Seine Ankündigung, sich im September aus der Politik zurückzuziehen, wird unterschiedlich aufgenommen. Die einen halten das für einen Witz und wollen ihn sofort davonjagen. Andere interpretieren das als Erfolg, der vor wenigen Tagen noch völlig unvorstellbar war. Und sie haben Mitleid mit einem ehemaligen Nationalhelden, der in seiner Heimat sterben will. Die Stimmung verändert sich. Einige verlassen den Platz mitten in der Nacht und wollen nicht mehr zurückkehren.

Mittwoch, der 2. Februar 2011
    Die Tage der Freiheit, des zivilen Miteinanders, scheinen vorbei zu sein. Auf dem Tahrir-Platz kursieren Gerüchte, dass sich immer mehr Polizeispitzel und Agenten in die Menge mischen. Das könnte die Handschrift des neuen Vizepräsidenten Omar Soliman sein. Schließlich leitete der treue Mubarak-Mann die Geheimdienste bis gestern, bis zu seiner Ernennung zum Vizepräsident. Am Mittag steuert eine große Gruppe von Mubarak-Anhängern auf den Platz zu. Sie sind aggressiv im Ton, bleiben aber friedlich. Plötzlich preschen Reiter heran. Ich sehe mindestens 15 Männer auf Kamelen und Pferden, die mit Knüppeln auf Demonstranten einschlagen. Manche liegen unter den Kamelen, manche springen auf sie und bringen sie zu Fall. Sofort frage ich mich: Wie haben die es bis hierher geschafft? Später hören wir, dass sie aus der Gegend der Pyramiden kommen. Die sind etwa sechs bis sieben Kilometer entfernt. Sie mussten also ziemlich viele Absperrungen der Armee passieren. Und sie wurden durchgelassen, obwohl man wusste, dass sie nichts Gutes im Schilde führen.
    Am Nachmittag entwickelt sich dann eine üble Schlägerei. Die Mubarak-Anhänger prügeln, werfen mit Steinen; es gibt viele Verletzte, auch Tote. Demonstranten lösen Pflastersteine aus dem Fußweg, um sich zu verteidigen. Ich bin kein Schläger und kann mit meiner verletzten Hand nichts werfen. Ich beschränke mich darauf, Frauen und Kinder zu einem sicheren Ort am anderen Ende des Platzes zu geleiten. Gelegentlich komme ich zurück, um die Entwicklung der Schlacht zu beobachten. Es ist das erste Mal, dass ich seit dem Ausbruch der Revolution religiöse Rufe auf dem Platz höre. Die Jugend der Muslimbrüder sieht in der Kamelschlacht eine Chance, eine aktive Rolle zu übernehmen. Mit der Unterstützung der Fußballfans gelingt es den Muslimbrüdern, die Mubarak-Anhänger ein Stück hinter das Ägyptische Museum zurückzudrängen. Dabei rufen sie »Allahu Akbar«, Gott ist groß. Obwohl es gegen die Abmachung der Organisatoren des Protestes ist, religiöse oder parteipolitische Parolen zu rufen, kommt von den Demonstranten kaum Widerspruch. Wir alle sind

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