Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
dankbar, dass sie die reitenden Angreifer vom Platz vertreiben. Ohne sie wäre der Platz von den Mubarak-Leuten erobert worden. Sie und die Muslimbrüder bewerfen einander stundenlang mit Steinen.
Die Armee steht in der Mitte des Platzes und tut nichts. Ich kann ihre Haltung nicht verstehen. Hat sie einen Deal mit Mubarak geschlossen, die Schläger des Regimes zu dulden, bis sie die Demonstranten vom Tahrir-Platz vertrieben haben? Gelegentlich feuern die Soldaten in die Luft und werfen Tränengas. Mir fällt eine Tränengasgranate vor die Füße, als ich dem Fernsehsender N- TV ein Interview gebe. Wir müssen das Gespräch unterbrechen. Ich hatte keine Essigflasche dabei, da ich dachte, die Zeiten des Tränengases seien vorbei. Ich muss ins Hotel und mich hinlegen. Am Abend fliegen von den den Tahrir-Platz säumenden Häusern Molotowcocktails auf die Demonstranten. Ich befinde mich glücklicherweise in einer sicheren Entfernung und beobachtete den Beginn der Konterrevolution. Da ich eine Live-Schaltung zur Talkshow »Hart aber fair« vereinbart hatte, muss ich den Platz verlassen. Es ist eine harte Entscheidung, denn jetzt wird jeder gebraucht, auch diejenigen, die keine Steine werfen. Aber es ist wichtig, dass die Menschen in Deutschland erfahren, dass die »Schlacht des Kamels«, wie sie in Ägypten genannt wird, eine Inszenierung des Regimes ist und nicht der Auftakt eines Bürgerkrieges. Nach mehreren Versuchen kann ich den Platz verlassen, sehe aber viele Schwerverletzte. Die Straßen um den Platz sind fest in den Händen der Mubarak-Anhänger. Nach der Sendung lassen sie mich nicht mehr zum Tahrir-Platz zurück. Eine aggressive Stimmung baut sich in den Straßen auf. Die Revolution scheint in ernsthafter Gefahr zu sein.
Donnerstag, der 3. Februar 2011
Noch immer scheinen die Zugänge zum Tahrir-Platz in der Hand der Mubarak-Anhänger zu sein. Ein Mann fragt mich barsch: »Bist du pro oder kontra?« Ich antworte: »Ich bin für Ägypten.« Als er bemerkt, dass mein Finger bandagiert wurde, fragt er, woher ich das habe. »Vom Freitag«, sage ich. Dann droht er: »Hau ab, sonst erschlage ich dich.« Und weil er nicht allein ist, ziehe ich mich zurück. Ich muss einen großen Umweg gehen, um wieder ins Zentrum des Protests zu kommen, denn alles dreht sich jetzt um den Tahrir-Platz. Dieser Platz ist Ägypten. Wer ihn in Besitz nimmt, beherrscht die internationalen Bilder. Und das ist die Logik des Regimes: Wenn die Demonstranten von dort vertrieben werden, stirbt die Revolte.
Das staatliche Fernsehen und die regimetreuen Zeitungen verbreiten Verschwörungstheorien. Der Chefredakteur einer großen Zeitung behauptet im Fernsehen, dass der Staat Katar und der Sender Al-Dschasira, der ausführlich über die Demonstrationen berichtet, ein Abkommen mit Israel geschlossen hätten. Ausländer hätten ihre Finger im Spiel. Regimetreue Schauspieler und Sänger wechseln sich im Fernsehen ab und bezeichnen die Tahrir-Demonstranten als Agenten des Westens und Israels. Einer von ihnen behauptet, er sei auf dem Platz gewesen und hätte gesehen, wie dubiose Menschen jedem Demonstranten 50 Euro in die Hand drückten und eine Lunch-Box von Kentucky Fried Chicken. Außerdem werde auf dem Platz die islamische Moral mit Füßen getreten, denn unverheiratete Männer und Frauen schliefen im gleichen Zelt, rauchten Haschisch und hätten Geschlechtsverkehr.
Am kommenden Tag sind deutlich weniger Frauen auf dem Platz, sie werden von ihren Familien daran gehindert zurückzukehren. Dafür tauchen viele junge Männer auf, die fragen, wo die 50 Euro verteilt werden. Das Regime stolpert über seine eigenen Lügen. Viele, die nach der emotionalen Rede von Mubarak bereits gegangen waren, kommen zurück, als sie hören, dass die Kamelreiter die Demonstranten angreifen.
Die Schizophrenie der staatlichen Medien manifestierte sich am deutlichsten im Umgang mit dem Thema Ausländer. Zum einen beklagen sie, dass die Revolution den Tourismus beschädige, weil Ausländer nun Angst hätten, nach Ägypten zu reisen. Gleichzeitig warnen die gleichen Medien vor Ausländern, die sich im Umfeld des Tahrir-Platzes befänden, weil diese Agenten seien, die Hetze betrieben, um das Land zu destabilisieren. Mal ist die Rede von Hamas-Agenten, dann sind sie Iraner, dann heißt es, sie seien Europäer, Amerikaner und Israelis.
Immer öfter höre ich, dass westliche Journalisten an ihrer Arbeit gehindert, oft sogar bedroht oder gar geschlagen werden. Dahinter
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