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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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Welt zu verändern. Al-Qaida profitierte eine Zeitlang von der Frustration und Perspektivlosigkeit dieser jungen Menschen und bot ihrem Hass eine Projektionsfläche: die USA . Die erste Generation von Al-Qaida wurde gezielt vom Terrornetzwerk ausgesucht und rekrutiert. Die zweite Generation suchte selbst nach Al-Qaida und bewarb sich. Viele Bewerber aus dieser Generation stammen nicht aus den arabischen Staaten, sondern aus den muslimischen Diaspora-Communities in Europa und in den USA . Die doppelte Entfremdung, Identitätsunsicherheit und Zukunftsängste sowie die politische Stagnation in ihren Herkunftsländern beförderten die radikalen Ideologien unter ihnen. Man löste sich von den geographischen Grenzen des Dschihad. Mit Hilfe der neuen Medien kam es zu der Erfindung einer imaginären globalen muslimischen Identität jenseits der Grenzen des Nationalstaates, was zur Globalisierung des Dschihad führte.
    Ein junger Muslim marokkanischer Abstammung verfolgte in Berlin, Rotterdam oder Brüssel die Nachrichten über den Krieg in Afghanistan und fühlte sich beteiligt. Je mehr die jungen Muslime sich aufgrund ihrer sozialen Realität im Westen gekränkt fühlten, desto mehr verbrüderten sie sich im Geiste mit leidenden Muslimen in Ländern, die sie womöglich nicht einmal auf der Landkarte finden konnten. Dies beförderte den Kult des Terrorcamps für viele junge Muslime in Europa.
    Zum einen war es eine Flucht aus einer Gesellschaft, von der man überfordert oder verkannt war, zum anderen war es ein Schritt von der imaginären Identität des globalen Islam hin zu einer wahren Begegnung mit Muslimen aus allen Ecken der Welt. Al-Qaida machte diese neue Form der Vergemeinschaftung möglich. Eine Gemeinschaft, die, wenn man von der Ideologie und den Zielen des Terrornetzwerks absieht, extrem modern und innovativ ist. Denn es handelt sich um eine Identität, welche die sprachlichen, geographischen und ethnischen Differenzen überwindet und nur auf gemeinsamen Werten aufbaut. Ja man könnte sagen, sie pflegten das gleiche Modell, das die EU seit Jahren predigt.
    Al-Qaida setzt bei ihrer Mobilisierung nicht auf Hoffnung, sondern auf Hass. Der Feind ist deshalb wichtiger als die Akteure des Dschihad. Die jungen Menschen in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, im Jemen, in Jordanien, Marokko und Bahrain, die im Jahr 2011 ihre Proteste auf die Straße trugen, haben sich aber dafür entschieden, zum ersten Mal nicht gegen Phantomfeinde und Sündenböcke, sondern gegen die wahren Ursachen ihrer Misere zu protestieren. Sie blieben trotz massiver Polizeigewalt friedlich und riskierten dabei ihr Leben.
    Die unterschiedlichen Geschichten von Mohamed Atta und Mohamed Bouazizi zeigen, dass sich die Zeiten geändert haben und mit ihnen die Formen des Protests. Während die Verzweiflung den ägyptischen Studenten in die Hände von Al-Qaida trieb und zur lebenden Bombe machte, die außer ihm mehrere tausend unschuldige Opfer in den Tod riss, entwickelte sich der Selbstmord des tunesischen Obsthändlers zur größten Befreiungsbewegung der arabischen Geschichte. Nach dem Erfolg der ägyptischen Revolution wurden alle politischen Gefangenen des Landes entlassen. Darunter war Abboud Al-Zumur, der seit 30 Jahren wegen seiner Beteiligung an der Ermordung Sadats in Haft war. Der Anführer der Terrorgruppe Jama’a Islamiya kündigte bei seiner Entlassung den Verzicht seiner Gruppe auf Gewalt als Mittel der Politik und die Akzeptanz der zivilen Staatsordnung an. In einem offenen Brief wandte sich die Gruppe nach dem Tod Bin Ladens an Al-Qaida und mahnte sie, ihren Kurs zu wechseln.
    Auf der anderen Seite können auch diese Revolutionen, sollten sie nicht in Demokratisierung und Wohlstand münden, Al-Qaida in die Hände spielen. Auf den Trümmern gescheiterter Staaten und gescheiterter Experimente blühen bekanntlich radikale Ideologien. Al-Qaida selbst hatte oft genug von der Destabilisierung und von den Unruhen in den gescheiterten Staaten der islamischen Welt profitiert. Wo der Nationalstaat schwächer wurde, wie in Afghanistan, Somalia und im Jemen, oder wo ethnische und religiöse Spannungen herrschten, wie in Nigeria, im Sudan und im Irak, konnten die Gotteskrieger Fuß fassen. Und selbst nach dem Tod Bin Ladens und der strukturellen Schwächung Al-Qaidas werden wir einen Boom der dritten Generation von Al-Qaida, der Do-it-yourself-Al-Qaida, erleben, vor allem im Westen. Das sind junge Menschen, die Al-Qaida als Geisteshaltung, als Idee

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