Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
sein, geben radikale Gruppen ihm das Gefühl, Teil eines Projekts, ja Teil eines göttlichen Plans zu sein. Man fühlt sich dadurch erwachsen und bedeutend. Eine explosive Mischung aus Minderwertigkeitskomplex und Omnipotenz, aus Verbitterung und Wunsch nach absoluter Reinheit lässt ihn aus seinem Leben ein Experiment machen.
Vor diesem Hintergrund erscheint mir der Tod Bin Ladens als Nebensache. Vielleicht wird sein Tod nur zwei Männern, die in den letzten Jahren politisch blass geworden sind, kurzfristig zu mehr Popularität verhelfen: Osama und Obama. Für die Dschihadisten wird Bin Laden dadurch als Märtyrer gelten, und Obama könnte durch Bin Laden, wie einst sein Vorgänger George W. Bush, seine Wiederwahl sichern.
Während der Tod von Bin Laden fast einstimmig in der westlichen Welt bejubelt wird, scheiden sich die Geister in den islamischen Staaten. Zwei Kondolenzbücher wurden auf Facebook für Trauergäste eingerichtet. Andere machen Bin Laden dafür verantwortlich, dass er das Bild des Islam in der ganzen Welt beschädigt hat.
Die Leiche von Bin Laden mag im Meer für immer verschwinden, aber die große Lücke, die zahlreichen Konflikte und die Asymmetrien, die zwischen der islamischen Welt und dem Westen herrschen, konnten nicht mit ihm versenkt werden.
[home]
In die Zange genommen –
die orientalischen Christen
E in Kopte fühlt sich zu Recht angegriffen, wenn er hört, dass die Kopten als »religiöse Minderheit« in Ägypten bezeichnet werden. Denn das Wort »Kopten«, das aus dem Griechischen stammt, war nichts anderes als die ursprüngliche Bezeichnung für die Einwohner Ägyptens. Es waren Kopten, die lange vor der arabischen Eroberung im 7. Jahrhundert in dem Land am Nil lebten. Und auch unter muslimischer Herrschaft blieb die Mehrheit der Ägypter christlich, bis zum 11. Jahrhundert. Das Gleiche galt für die Christen Syriens.
Zu Massenkonversionen zum Islam kam es erst während der christlichen Kreuzzüge (1096–1291). Die orientalischen Christen wollten den Verdacht von sich weisen, Kollaborateure der Kreuzritter zu sein; mit den Zielen westlicher Gotteskrieger wollten sie nicht identifiziert werden. Zudem suchten sie einen Weg, die hohen Steuern zu vermeiden, die Nichtmuslime damals entrichten mussten. Auch während der Zeit des Kolonialismus im 19. Und 20. Jahrhundert mussten die Christen den muslimischen Machthabern gegenüber mehr Loyalität zeigen als die muslimischen Bürger des Landes, um nicht als verlängerter Arm der Kolonialherren betrachtet zu werden.
In Zeiten des Umbruchs in der islamischen Welt fürchteten die Christen immer, zum Kanonenfutter der Veränderung zu werden. Je mehr die Gedanken und die politischen Konzepte der Moderne in der islamischen Welt sichtbar wurden, desto enger wurde der Spielraum für die Christen im Orient. Unter osmanischer Herrschaft lebten die orientalischen Christen in der Türkei sowie in der arabischen Welt zwar wie Bürger zweiter Klasse und waren von vielen Privilegien ausgeschlossen, welche die muslimische Mehrheit genoss, doch staatlich inszenierte Pogrome oder Massenvernichtungen mussten sie nicht befürchten. Mit der verspäteten Ankunft der Idee des Nationalismus, den die osmanischen Armeeoffiziere der Jungtürkenbewegung aus Europa importierten, wurden die orientalischen Christen plötzlich nicht nur als eine andere Ethnie, sondern als Sicherheitsrisiko angesehen. Unter dem Vorwand, christliche Armenier würden mit Russland, dem Kriegsgegner der Osmanen, kollaborieren, kam es zwischen 1915 und 1917 zur Vernichtung von eineinhalb bis zwei Millionen Armeniern, die unter osmanischer Herrschaft lebten. Ihr Schicksal ist mit dem Schicksal der europäischen Juden vergleichbar, die mit dem Aufstieg des Nationalismus in Europa im 19. Jahrhundert starke Wellen des Antisemitismus erleiden mussten, die später in den Holocaust mündeten. Beide Verbrechen wurden nicht von religiösen Eiferern, sondern von Nationalisten begangen. Doch die Etablierung der Juden als ewiges Feindbild der Christen und die tief verankerte antichristliche Haltung in der islamischen Welt sind ohne die religiösen Traditionen nicht zu begreifen. Auch der säkulare Nationalismus schöpft bewusst oder unbewusst aus alten religiösen Mythen, um die historische Kontinuität einer Ethnie zu bekräftigen.
Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches und am Ende des islamischen Kalifats hofften die orientalischen Christen, endlich als gleichberechtigte Bürger in modernen
Weitere Kostenlose Bücher