Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
der Abgrenzung und des Ausdrucks von Wut und Ablehnung sehen. Im Internet kommen sie der radikalen Ideologie näher und begegnen Gleichgesinnten. Auch dort hören sie die Hasspredigten von lebenden und toten Al-Qaida-Kämpfern. Im Internet finden sie ein virtuelles Terrorcamp, dort können sie auch die Anleitung für ihre persönliche Bombe herunterladen. Die Privatisierung des Wissens, die eine Facebook-Revolution möglich machte, zeigt ihre dunkle Seite, denn sie führt auch zur Privatisierung des Terrors.
In Europa und den USA leben zwei Gruppen von jungen Muslimen, die sich von den radikalen Ideologien der militanten Islamisten nach wie vor angesprochen fühlen: »eingeborene« Migrantenkinder und Konvertiten. Die Moderne versetzt diese jungen Menschen in die Lage, sich von ihrer Herkunft zu distanzieren – das kann auch Desorientierung schaffen –, egal ob bei Deutschen oder anderen. Der Islamismus bietet klare Antworten, eine vereinfachte Aufteilung der Welt in Gläubige und Ungläubige. Das bietet Orientierung. Die jungen Muslime fühlen sich im Schoß der Islamisten als Soldaten Gottes, als eine Vorhut der Revolution.
Die Asymmetrie in der Beziehung zwischen den Migranten und der Aufnahmegesellschaft, die Umbrüche in unserer Welt und die Angst vor der Zukunft sowie die gegenseitigen Ressentiments, die sich wechselseitig hochschaukeln, werden die radikalen Weltanschauungen aller Couleur beflügeln. Die Turbulenzen in dieser Welt werden in den nächsten Jahren zu einer noch tieferen Kluft führen zwischen einem Sarrazin-Volk, das um seine traditionellen Werte und seine gewohnte Lebensweise fürchtet, und einer Generation junger Muslime, die gerne in Selbstmitleid und Lethargie verfällt und sich ohnmächtig fühlt. Eben diese Mischung aus moralischer Überlegenheit und materieller Unterlegenheit, zwischen Ohnmacht und Allmachtsvisionen macht den islamistischen Terror unberechenbar und gefährlich, auch wenn seine Infrastruktur zerstört wird.
Hinzu kommt, dass die religiöse Dimension des Terrorismus in der politischen Debatte kaum Beachtung findet. Oft werden die Psychologie der Täter und ihr soziales Umfeld analysiert, um deren Motive herauszufinden. Doch der islamistische Terrorismus wäre niemals erfolgreich ohne die geistige Kraft, die hinter ihm steht. Zunächst kommen die Koranpassagen, die den Kampf gegen Ungläubige legitimieren, dann der Märtyrerkult, der eine zusätzliche Motivation für den Terror bietet. Erst der Glaube verleiht dem kalkulierten politischen Akt eine mystische Dimension. Dieser Glaube, ob nun richtig verstanden oder falsch interpretiert, schafft eine menschliche Mauer zwischen dem Täter und seinem Opfer. Die Herabsetzung der Ungläubigen in der religiösen Literatur entmenschlicht die Opfer und lässt kaum Mitleid zu. Erst die göttliche Sprache ermöglicht es dem Attentäter, in eine sakrale Welt einzutreten.
Die arabische Revolution hat gezeigt, wie eine Kultur, die auf Autorität und Hierarchie setzt, die politische Autorität des Herrschers in Frage stellen kann. Wenn die befreiten Staaten nun in dem gleichen Geist weitermachen wollen, dann müssen sie sich irgendwann mit den religiösen Autoritäten und mit der Autorität des »heiligen« Textes auseinandersetzen. Es geht nicht darum, den Koran zu verbieten oder ihn für ungültig zu erklären, sondern es geht darum zuzulassen, über seine Entstehung, den historischen Kontext seiner Teile und den politischen Gehalt seiner Botschaften ohne Tabus zu diskutieren. Erst die Relativierung der Heiligkeit des Korans als direktes Wort Gottes kann den Weg freimachen für die Gedanken der Aufklärung in der arabischen Welt. Der Koran selbst ist nicht reformierbar. Es gilt, die Gedanken der Gläubigen und ihre Haltung zum Koran zu reformieren.
Selbstverständlich gibt es einen Unterschied zwischen der Hinwendung zur Religion und der Radikalisierung. Die Religion bietet neben spiritueller Erfüllung auch klare Orientierung und Handlungsanweisungen, die den Menschen, die von Ambivalenz und Relativismus überfordert sind, sehr attraktiv erscheinen. Der Islamismus bietet Individuen, die sich sowohl von ihren Familien als auch vom »Gastland« oder »Geburtsland« entfremdet haben, eine reale und eine imaginäre Gemeinschaft. Zunächst kommt die Mitgliedschaft in der kleinen Gruppe, die dem neuen Mitglied Anerkennung, Nestwärme und einen Auftrag bietet. Während der Rest der Gesellschaft ihm den Eindruck vermittelt, überflüssig zu
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