Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
Afghanistan Muslime sind. Jetzt kann Bin Laden in der Meerestiefe ruhen, denn die arabische Bevölkerung braucht keinen Mörder mehr, der sich anmaßt, in ihrem Namen zu sprechen, oder sie zum Aufstand anstiftet.
Als Bin Ladens Al-Qaida das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington angriff, steckte dahinter ein klares Kalkül. Dem Terrornetzwerk ging es um mehr als nur um die Demütigung der Vereinigten Staaten durch die Zerstörung der Symbole ihrer wirtschaftlichen und militärischen Macht. Bin Laden wusste, dass die Amerikaner sofort reagieren und unverhältnismäßige Vergeltung üben würden. Er erwartete, dass dabei viele muslimische Zivilisten ums Leben kommen würden, und hoffte darauf, dass dies die arabischen Massen auf die Straßen brächte, um zunächst die eigenen, aus seiner Sicht unislamischen Regime zu stürzen und danach gegen den großen Feind Amerika vorzugehen. Er erkannte das Potenzial der Wut in der jungen arabischen Generation und wollte davon profitieren. Aus seinen ersten von Al-Dschasira ausgestrahlten Reden nach den Anschlägen geht hervor, dass er eine umfassende Revolution entfesseln wollte. Er appellierte an den Stolz und an die religiösen Gefühle aller Muslime und warb um Unterstützung gegen die »Kreuzritter« aus dem Westen.
Bin Laden rechnete damit, dass der Herbst 2001 Zeuge des großen arabischen Erwachens sein würde. Die Reaktion seiner Feinde hat er richtig eingeschätzt, denn die Vergeltung der USA ließ nicht lange auf sich warten, und auch zivile Opfer hat es reichlich gegeben. Doch die Menschen, in deren Namen er immer zu sprechen vorgab, haben ihn im Stich gelassen. Viele Muslime unterstützten zwar seine Rhetorik, vor allem wenn es um die Befreiung Palästinas oder die Vertreibung der US -Truppen aus den Militärbasen am Persischen Golf ging, doch die Mittel, die er für seinen Kampf einsetzte, konnten nur die wenigsten gutheißen. Die Massen blieben zu Hause, und die große arabische Revolution blieb aus.
Erst im Herbst 2010 und Winter 2011 gingen die arabischen Massen auf die Straße, allerdings nicht im Namen des Dschihad oder sonst einer Ideologie. Sie sind nicht dem Ruf eines Islamistenführers gefolgt, sondern der Einladung junger Internetaktivisten, die nicht den Märtyrertod finden, sondern in Würde und Freiheit leben wollen.
Bin Ladens Stellvertreter, der Ägypter Ayman Al-Zawahiri, versuchte ebenfalls in den 1970er Jahren vergeblich, eine islamische Revolution zu entfesseln. Er wollte die Dschihad-Bewegung in Ägypten etablieren. Er glaubte daran, dass das politische Engagement der jungen Menschen keine Veränderung bringen werde, sondern nur dem System des »Unglaubens« eine weitere Legitimation verleihe. Noch wenige Monate vor der arabischen Revolution sagte er in einer Videobotschaft, friedliche Demonstrationen könnten niemals eine Veränderung in der islamischen Welt herbeiführen. Er hielt die Bemühungen der oppositionellen Gruppen in der arabischen Welt für Zeitverschwendung, denn aus seiner Sicht ist nur der bewaffnete Kampf ein Kampf für die Sache Gottes. Aber seine Botschaften sowie die Verlautbarungen Bin Ladens, die vom 11. September 2001 an bis 2004 von den jungen Arabern sehnsüchtig erwartet wurden, wurden von ihnen in den letzten Jahren ignoriert.
Die arabische Jugend suchte sich andere Idole wie Mahathir bin Mohamad, den ehemaligen Präsidenten Malaysias, oder Recep Tayyib Erdogan, den türkischen Premierminister. Beides Politiker, die zwar den islamischen Charakter ihrer Staaten immer wieder betonen, aber auch die demokratische Grundordnung nicht in Frage stellen. Entscheidend ist, dass diese beiden Politiker in der islamischen Welt nicht nur für ihre Rhetorik beliebt sind, sondern auch weil sie für ihre Bevölkerung ein gewisses Maß an Wohlstand und Entwicklung erreicht haben.
Wie gesagt, der Terrorismus, die illegale Einwanderung und die arabischen Aufstände haben eine gemeinsame Wurzel: das Erwachsenwerden einer neuen Generation, deren Individualisierung, Verzweiflung und das Gefühl der Demütigung, das an ihr nagt. Eine Generation, die sich im eigenen Land fremd fühlt, weil sie dort kaum Aussicht auf persönliche oder politische Erfüllung hat.
Früher suchte Al-Qaida gezielt junge Muslime aus, die sich von den familiären und staatlichen Strukturen abgekapselt hatten, gab ihnen eine Stimme und einen Auftrag. Der Dschihad war ihr Projekt und ihre Perspektive, um nicht nur ihr Leben, sondern auch die
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