Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens
weiter eskaliert, entschied man sich, alles auf den Sündenbock zu projizieren.
Am Freitag danach war ich auf dem Tahrir-Platz und sah, wie die nationale Einheit inszeniert wurde. Ein General trug einen Koran und ein Kreuz und rief: »Christen und Muslime sind eine Hand.« Die Masse jubelte ihm zu. Ein muslimischer Geistlicher und ein koptischer Priester umarmten sich demonstrativ. Eine völlig andere Erzählung über die verbrannte Kirche machte die Runde: Die Kirche soll von ehemaligen Staatssicherheitsoffizieren angezündet worden sein, deren Büros überall in Ägypten Tage davor von Demonstranten verwüstet worden waren. Muslimen war es peinlich zuzugeben, dass nicht alles, was schlimm ist in Ägypten, eine Erfindung Mubaraks ist. Auch nach Mubarak bleibt die ewige Krankheit: die Suche nach einem Sündenbock, auf den man seine Schuld laden kann. Wie oft haben diese Demonstranten gehört, wie ein Imam in einer Moschee erklärte, dass der christliche Glaube ein verfälschter sei und dass jene, die an Jesus als den Sohn Gottes glauben, Ungläubige seien? Fast alle. Wer von ihnen wunderte sich, dass in den ägyptischen Schulbüchern nichts über die Kopten, ihre Geschichte und ihren Glauben steht? Wohl kaum einer. Nur im Geschichtsbuch der elften Klasse steht ein kurzes Kapitel über die Kopten. Dieses trägt allerdings den Titel »Die Sonne des Islam scheint über Ägypten«. In jenem Schulbuch wird gelehrt, die Kopten seien von den Römern unterdrückt und daran gehindert worden, ihren Glauben zu praktizieren, bis die Muslime kamen, sie befreit und ihnen Glaubensfreiheit und Wohlstand gebracht hätten. Die Kopten sollen die arabischen Eroberer bejubelt und willkommen geheißen haben. Das Kapitel, das eigentlich über die Kopten aufklären sollte, war nur eine Selbstbeweihräucherung der Muslime, mehr nicht.
Nicht alle Demonstranten waren auf dem Tahrir-Platz an diesem Tag. Mehrere tausend Kopten demonstrierten vor dem Sitz des staatlichen Fernsehsenders, 500 Meter vom Tahrir entfernt, und forderten mehr Schutz für die Christen. Dort sprach ich mit »Hani«, einem 21 Jahre alten koptischen Studenten. Hani war seit Ausbruch der Revolution auf dem Tahrir-Platz dabei und war bei den Demonstrationen am Rücken verletzt worden. Er hoffte, dass sich Ägypten nach dem Sturz Mubaraks ändern würde und dass die Kopten nun alle Bürgerrechte erhielten. Doch der Anschlag auf die Kirche stimmte ihn pessimistisch. »Ich dachte, nach dem 25. Januar lebe ich in meinem Land, aber Ägypten ist noch nicht mein Land. Hier sind Menschen, die Ägypten nur für Muslime haben wollen, und sie sind stark. Der Rest tut nichts nach einem Anschlag auf Christen, außer auf Facebook die Profilbilder zu ändern, auf denen sich Halbmond und Kreuz umarmen«, klagte er. Er stand auf und rief mit der Menge: »Das Volk will internationalen Schutz. Wir bleiben. Wir gehen nicht.«
Zwei Monate später kam es zu einem erneuten Zwischenfall. Eine Christin in Südägypten, die nicht mehr mit ihrem Mann zusammenleben wollte, sich von ihm aber laut ihrem Glauben nicht scheiden lassen darf, floh mit einem muslimischen Busfahrer und kündigte an, zum Islam übergetreten zu sein. Als sich die Nachricht verbreitete, die Frau sei in einer Kirche in Kairo verhaftet und zur Rückkehr zum Christentum gezwungen worden, mobilisierte die radikal salafitsche Bewegung mehrere hundert Anhänger (via Internet), versammelte sich vor einer Kirche in Imbaba bei Kairo und zündete sie mit Molotowcocktails an. Es kam zu einer mehrstündigen Schlägerei, bei der acht Kopten und sieben Muslime starben. Auch hier ließ eine Verschwörungstheorie nicht lange auf sich warten. Saudi-Arabien, das die Salafisten unterstützt, wollte verhindern, dass Mubarak vor Gericht gestellt wird. Chaos und Nebenthemen wie sektiererische Gewalt könnten dies verhindern, bis Saudi-Arabien mit dem Militärrat verhandeln konnte. Zwar gab und gibt es klare Anzeichen dafür, dass Saudi-Arabien eine Demokratie in Ägypten mit allen Mitteln verhindern will, und es ist richtig, dass der reiche Golfstaat Mubarak, wie zuvor schon Ben Ali von Tunesien und Saleh aus dem Jemen, aufnehmen will. Doch zu behaupten, die muslimischen Ägypter hätten partout nichts gegen Kopten und alles sei eine Manipulation von außen, entspricht dem Niveau der Verschwörungstheorie des israelischen Hais im Roten Meer.
Ägypten und alle anderen arabischen Länder stehen am Scheideweg. Entweder entscheidet man sich für eine
Weitere Kostenlose Bücher