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Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens

Titel: Krieg oder Frieden / Die arabische Revolution und die Zukunft des Westens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hamed Abdel-Samad
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seinem Glauben beurteilt wird.
    In Ägypten kam es bis Anfang der 1970er Jahre kaum zu einer größeren Auseinandersetzung zwischen den Muslimen, die fast 90 Prozent der Bevölkerung ausmachen, und den christlichen Kopten, die zwischen acht und zehn Prozent der Bevölkerung bilden. Die Linken lehnten Sadats Umstellung der ägyptischen Wirtschaft auf das kapitalistische System ab und bildeten starke Fronten gegen sein Vorhaben, woraufhin dieser die Islamisten aus den Gefängnissen entließ und ihnen in den Moscheen und Universitäten freie Hand ließ. Diese haben nicht nur Sadats Öffnungspolitik als islamisch gepriesen, sondern fingen auch an, gegen die Christen im Lande zu hetzen. Die religiös motivierte Gewalt gegen Kopten begann im Jahre 1972, als Christen das Gebäude einer koptischen Stiftung zum Zweck des Gebets verwendeten. Laut dem damaligen Gesetz durften ohne staatliche Genehmigung keine neuen Kirchen gebaut oder renoviert werden. Aufgebrachte Muslime stürmten das Gebäude und steckten es in Brand. Danach kam es bis zum Tod Sadats im Oktober 1981 zu Angriffen auf koptische Einrichtungen und Geschäfte. Unter Sadat stand der Patriarch der koptischen Kirche, Shinoda III , eine Zeitlang unter Hausarrest, weil er mehr Autonomie für die Kirche forderte.
    Die ersten Jahre unter Mubarak waren relativ ruhig für die Kopten, doch Anfang der 1990er Jahre gab es erneut Angriffe auf Kirchen und christliche Geschäfte. Gesteuert wurden sie von der terroristischen Dschama’a Islamiyya, die eine Fatwa erließ, die das Ausrauben von Goldgeschäften der Christen erlaubte, um Waffen und Nachschub für die islamistischen Kämpfer zu finanzieren. Vor allem im Süden des Landes, wo eine große koptische Gemeinde lebt, kam es in den letzten Jahren zu Übergriffen auf Kirchen und zur Enthauptung von Geistlichen.

    Einige Monate vor der Revolution behauptete der populäre Juraprofessor Selim al-Awwa, Vorsitzender der ägyptischen Gesellschaft für Kultur und Dialog, gegenüber dem Sender Al-Dschasira, die Kopten versteckten in ihren Kirchen geschmuggelte Waffen. Kurz darauf drohte eine im Irak agierende Al-Qaida-Gruppe, koptische Kirchen in Ägypten anzugreifen. Zwei Monate später explodierte in der Silvesternacht die Autobombe vor der Al-Qiddisain-Kirche in Alexandria, 23 Christen starben. Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt. Es handelt sich zwar bei den Tätern um Islamisten, doch richten sich die Vorwürfe gegen den damaligen Innenminister Habib Al-Adly. Er habe von dem Anschlag gewusst und trotzdem keinen Schutz für die Kirche bereitgestellt. Andere werfen dem Minister sogar vor, der Hauptdrahtzieher hinter dem Anschlag gewesen zu sein.

    Alexandria war einst die Hauptstadt der Welt. Alle Rassen und Religionen waren hier beheimatet. Doch die Stadt, in die europäische Juden vor dem Antisemitismus und Armenier vor der türkischen Verfolgung flüchteten, kennt heute kaum mehr Toleranz für ihre Ureinwohner, die Christen. In nur 100 Jahren ist die Zahl der Einwohner in der Hafenstadt von 100 000 auf sechs Millionen gestiegen. Die meisten von ihnen leben in Slums, die sich krebsartig um den Küstenstreifen der Stadt legen. Das moderne Alexandria ist verarmt und wurde wie alle Städte Ägyptens islamisch uniformiert. Massen perspektivloser junger Menschen finden dort nur in den Botschaften radikaler Prediger Trost. Während die Gesellschaft diese jungen Leute für nutzlos hält, geben ihnen die Islamisten das Gefühl, wichtig zu sein – als Soldaten Gottes.
    Derselbe fromme Juraprofessor, der zuvor vor einer koptischen Verschwörung gewarnt hatte, war auf Al-Dschasira zu sehen, um das Attentat vom 1. Januar 2011 auf eine Kirche in Alexandria zu kommentieren. Diesmal warf er dem Mossad vor, den Anschlag verübt zu haben. Diese Position wird von vielen in Ägypten geteilt. Sogar die Haiattacke im Badeort Scharm al-Scheich im Dezember 2010 wurde als eine Verschwörung des israelischen Geheimdiensts gedeutet. Eine derartig trostlose Gesinnung ist leider auch noch nach der Revolution in Ägypten und in anderen arabischen Staaten typisch.
    Selbstverständlich war nach dem Anschlag die Welle der Empörung auch in Ägypten hoch. Doch das reicht nicht. Denn die Bombe, die vor der Kirche explodierte, bestand nicht nur aus Pulver, wie der Schriftsteller Belal Fadl schreibt, »sondern auch aus Indoktrination, verwirrter Kulturpolitik, fragwürdiger Religiosität, krankem Patriotismus und einem maroden Machtsystem, das falsche

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