Krieg und Frieden
Peter stand die Frau mit dem kleinen Mädchen. Als die Patrouille sich in Bewegung setzte, lief sie auf Peter zu.
»Wohin führen sie dich, mein Täubchen?« sagte sie. »Und wo soll ich das Mädchen lassen?«
»Was will sie?« fragte der Offizier.
Peter war wie betrunken. Beim Anblick des Mädchens, das er gerettet hatte, stieg seine Aufregung noch.
»Was sie will?« fragte er. »Sie bringt meine Tochter fort, die ich aus dem Feuer gerettet habe! Lebe wohl!« Und ohne zu wissen, wie er zu dieser zwecklosen Lüge gekommen war, schritt er mit entschlossenen, feierlichen Schritten inmitten der Franzosen weiter.
Die Patrouille war ausgesandt worden, um die Marodeure in den Straßen Moskaus und besonders die Brandstifter einzufangen, welche nach der bei den Franzosen herrschenden Ansicht das Feuer angesteckt haben mußten. Die Patrouille setzte ihren Weg noch durch einige Straßen fort und fing noch etwa fünf verdächtige Russen, einen Kaufmannsdiener, zwei Seminaristen und zwei Bauern, sowie verschiedene Marodeure. Von allen Verdächtigen aber war Peter der Verdächtigste. Als man sie alle in ein großes Haus am Subowschen Wall geführt hatte, in welchem die Hauptwache errichtet worden war, wurde Peter unter strenger Wache ein besonderes Zimmer angewiesen.
206
In Petersburg wurde in den höchsten Kreisen mit größerer Heftigkeit als jemals ein Kampf der Parteien Rumjazows, der Franzosen, Maria Petrownas, des Thronfolgers, ausgefochten. Äußerlich aber ging alles nach alter Weise, und es wäre schwer gewesen, ein Anzeichen der Gefahr zu entdecken, in der sich das russische Volk befand. Man besuchte dieselben Gesellschaften, Bälle, dasselbe französische Theater. Man war mit denselben Hofgeschichten, mit denselben Interessen des Dienstes und der Intrige beschäftigt.
Bei Anna Pawlowna, der Hofdame, war am 26. August, dem Tage der Schlacht von Borodino, eine Abendgesellschaft versammelt, bei welcher einige vornehme Personen zugegen sein wollten, die man beschämen mußte, weil sie das französische Theater besucht hatten. Schon ziemlich lange hatten sich die Gäste versammelt, aber immer noch fehlten einige derselben, die Anna Pawlowna erwartete.
Die Neuigkeit des Tages war die Krankheit der Gräfin Besuchow. Vor einigen Tagen war die Gräfin plötzlich erkrankt, hatte einige Gesellschaften, deren Zierde sie sonst war, versäumt, und man sagte, sie empfange niemand, und anstatt der berühmten Petersburger Ärzte, die sie gewöhnlich behandelten, habe sie sich einem italienischen Arzte anvertraut, der eine ganz neue, ungewöhnliche Kur anwende.
Alle wußten sehr gut, daß die Krankheit der entzückenden Gräfin von der Unmöglichkeit herrührte, zwei Männer auf einmal zu heiraten, und daß die Heilmethode des Italieners darin bestand, diese Unmöglichkeit zu beseitigen. Aber in Gegenwart von Anna Pawlowna wagte niemand dies zu denken oder auch nur zu wissen.
»Man sagt, es stehe sehr schlecht mit der armen Gräfin. Der Arzt sagt, es sei Halsbräune.«
»Wie ich hörte, haben sich die Rivalen ausgesöhnt.«
»Man sagt, der alte Graf sei sehr gerührt. Er weinte wie ein Kind, als der Arzt sagte, der Fall sei gefährlich.«
»O, das wäre ein großer Verlust, solch eine entzückende Dame!«
»Ich habe mich nach ihrer Gesundheit erkundigen lassen«, sagte Anna Pawlowna, »es soll ihr etwas besser gehen. Ach, sie ist die entzückendste Dame der Welt! Wir gehören verschiedenen Lagern an, aber das hält mich nicht ab, sie nach ihrem Verdienst zu verehren. Sie ist so unglücklich!«
Bald berührte das Gespräch in flüchtiger Weise die Tagesneuigkeiten. »Sie werden sehen«, sagte Anna Pawlowna, »morgen am Geburtstag des Kaisers erhalten wir neue Nachrichten, ich habe ein Vorgefühl.«
207
Dieses Vorgefühl Anna Pawlownas trog nicht. Am andern Tag wurde während des Dankgebets zum Geburtstag des Kaisers Fürst Wolkonsky aus der Kirche herausgerufen, da ein Brief vom Fürsten Kutusow an ihn eingetroffen war. Das war die Meldung Kutusows, die er am Tage der Schlacht geschrieben hatte, die Russen seien keinen Schritt zurückgewichen, die Verluste der Franzosen seien viel größer als die unsrigen, und er habe noch keine näheren Nachrichten einziehen können.
Das war wahrscheinlich ein Sieg, und sogleich wurde in der Kirche ein Dankgebet gelesen. Am ganzen Morgen herrschte in der Stadt eine freudige Stimmung, alle hielten den Sieg für vollständig, und einige sprachen schon von der Gefangennahme Napoleons
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