Krieg und Frieden
ging zu ihrer Tante.
Am Abend dieses Tages war Nikolai zu Hause geblieben, um einige Abrechnungen mit Pferdehändlern zu beendigen. Als er damit fertig geworden war, war es schon zu spät geworden, um auszugehen, aber es war noch zu früh, um sich schlafen zu legen, und Nikolai ging in tiefen Gedanken auf und ab.
Fürstin Marie hatte bei Smolensk einen angenehmen Eindruck auf ihn gemacht, welcher sich in Woronesch noch bedeutend verstärkte. »Sie muß ein wunderbares Mädchen sein« sagte er. »Warum bin ich nicht frei, warum habe ich mich mit Sonja übereilt?« Und unwillkürlich begann er, beide miteinander zu vergleichen und versuchte sich vorzustellen, was er tun würde, wenn er frei wäre.
Lawruschka trat ein und brachte ihm zwei Briefe. Der eine war von seiner Mutter, der andere von Sonja, und diesen erbrach er zuerst. Kaum hatte er einige Zeilen gelesen, als sein Gesicht erbleichte und seine Augen in freudigem Schrecken erglänzten.
»Nein, das kann nicht sein«, sagte er laut, sprang auf und ging im Zimmer umher. Hastig durchlas er den Brief mehrmals und blieb mitten im Zimmer mit offenem Munde stehen. Was er noch soeben so innig herbeigewünscht hatte, war jetzt erfüllt. Der anscheinend unlösbare Knoten, der seine Freiheit gebunden hielt, war durch diesen unerwarteten Brief Sonjas gelöst. Sie schrieb, die letzten, unglücklichen Ereignisse, durch welche fast der ganze Rest des Vermögens Rostows in Moskau verlorengegangen sei, und der oft ausgesprochene Wunsch der Gräfin, daß Nikolai die Fürstin Bolkonsky heiraten möchte, sowie auch sein Schweigen und seine Kälte in letzter Zeit hätten sie zu dem Entschluß gebracht, auf sein Versprechen zu verzichten und ihm volle Freiheit zu geben.
»Der Gedanke wäre mir unerträglich, daß ich die Veranlassung von Kummer und Zwist in der Familie sein könnte, die mir immer so viel Gutes erwiesen hat«, schrieb sie, »und darum bitte ich Sie, Nikolai, sich für frei anzusehen und überzeugt zu sein, daß dennoch niemand Sie stärker liebt als Ihre Sonja.«
Die beiden Briefe waren aus Troiza, der andere Brief war von der Gräfin. Sie beschrieb die letzten Tage ihres Aufenthalts in Moskau, die Abreise, die Feuersbrunst und den Untergang ihres Vermögens. Die Gräfin bemerkte auch, Fürst Andree sei mit ihnen und den Verwundeten von Moskau abgefahren, sein Zustand sei sehr gefährlich, jetzt aber habe der Arzt erklärt, daß mehr Hoffnung vorhanden sei. »Sonja und Natalie pflegen ihn mit großem Eifer.«
Mit diesem Brief begab sich Nikolai am andern Tag zur Fürstin Marie. Weder er noch Marie sprachen davon, was die Worte bedeuteten: »Sonja und Natalie pflegen ihn«, aber dieser Brief brachte sie plötzlich einander sehr nahe und in beinahe verwandtschaftliche Beziehungen.
Am andern Tag verabschiedete sich Rostow von der Fürstin Marie, welche nach Jaroslaw reiste, und nach einigen Tagen begab er sich zu seinem Regiment.
213
Der Brief Sonjas an Nikolai war durch die Einwirkung der alten Gräfin hervorgerufen worden, die beständig an eine reiche Heirat für Nikolai dachte. Sie wußte, daß Sonja das hauptsächliche Hindernis dafür war und deshalb versäumte sie keine Gelegenheit, Sonja durch eine grausame Anspielung zu beleidigen. Aber einige Tage vor der Abreise aus Moskau hatte die Gräfin Sonja zu sich gerufen und sie unter Tränen gebeten, sich zu opfern und für alles das, was ihr erwiesen worden sei, sich erkenntlich zu zeigen durch einen Bruch mit Nikolai.
»Ich werde keine Ruhe haben«, sagte sie, »bis du mir dies versprichst.« Sonja beteuerte unter hysterischem Weinen, sie sei zu allem bereit, gab aber noch kein bestimmtes Versprechen und konnte sich zu dem Opfer nicht entschließen. Die Sorge und die wilde Erregung der letzten Tage in Moskau halfen Sonja über die drückenden, düsteren Gedanken fort, und zuweilen erfüllte sie eine freudige, abergläubische Zuversicht, daß Gott sie nicht von Nikolai trennen werde. Sie hoffte, daß Natalie und Fürst Andree, nachdem sie unter so schrecklichen Umständen wieder zusammengeführt worden waren, von neuem einander liebten, und daß Nikolai die Fürstin Marie nicht werde heiraten können wegen der Verwandtschaft, welche eine Ehe zwischen Fürst Andree und Natalie für Nikolai und Marie zur Folge haben würde.
Im Troizkoikloster wurde zum erstenmal Rast gemacht. Die Familie nahm drei große Zimmer im Gasthause des Klosters ein, von denen das eine für Fürst Andree bestimmt wurde. Er befand
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