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Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Titel: Krieg und Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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erfrorene Russen zu hüten, welche am Wege liegenblieben, obgleich befohlen wurde, sie zu erschießen, das war den Soldaten unbegreiflich und widerlich, und deswegen benahmen sie sich besonders finster und feindselig gegen die Gefangenen. Der Befehl, daß die gefangenen Offiziere vorausmarschieren sollten, war längst vergessen. Karatajew wurde am dritten Marschtag vom Fieber befallen, und je schwächer er wurde, desto mehr entfernte sich Peter von ihm. In der Gefangenschaft hatte Peter mit seinem ganzen Wesen erkannt, daß der Mensch zum Glück geschaffen sei, daß das Glück in ihm selbst liege und in der Befriedigung der natürlichen menschlichen Bedürfnisse, und daß alles Unglück nicht vom Mangel, sondern vom Überfluß herkommt. Jetzt aber in den letzten drei Wochen hatte er eine neue tröstliche Wahrheit entdeckt. – Er erkannte, daß es auf der Welt nichts Schlechtes gebe, er erkannte, daß, ebenso wie es keine Lage auf der Welt gibt, in welcher der Mensch vollkommen glücklich und frei ist, es auch keine Lage gäbe, in der er gänzlich unglücklich und unfrei wäre, er erkannte, daß es eine Grenze der Leiden und eine Grenze der Freiheit gebe, und daß diese Grenzen einander sehr nahe seien. Er erkannte, daß er damals, als er aus freiem Willen, wie er glaubte, seine Frau heiratete, nicht freier war als jetzt, wo man ihn über Nacht in einen Pferdestall einsperrte. Das Schlimmste, was später auch er Leiden nannte, was er aber damals kaum fühlte, waren seine bloßen, zerrissenen Füße. Das Pferdefleisch war schmackhaft und nahrhaft, bei Tage war es warm und abends wärmte man sich am Feuer. Am zweiten Marschtag, als er seine schmerzenden Füße betrachtete, glaubte Peter, es sei unmöglich, auf ihnen weiterzugehen, aber als alle sich erhoben, hinkte er auch weiter, und als er warm geworden war, verschwand der Schmerz, obgleich seine Füße abends noch schrecklicher aussahen. Aber er sah sie nicht an und dachte an etwas anderes.
    Er sah und hörte nicht, wie man die liegenbleibenden Gefangenen erschoß, obgleich schon mehr als hundert auf diese Weise ums Leben gekommen waren, er dachte nicht an Karatajew, der mit jedem Tag schwächer wurde und augenscheinlich rasch demselben Schicksal entgegenging, und noch weniger dachte er an sich selbst.

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    »Achtung!« schrie plötzlich eine Stimme. Unter den Gefangenen und Soldaten entstand eine freudige Bewegung und Erwartung, von allen Seiten hörte man Kommandorufe und von links her erschienen gut gekleidete Reiter auf wohlgenährten Pferden. Auf allen Gesichtern erschien der Ausdruck der Spannung, wie gewöhnlich beim Erscheinen hoher Vorgesetzter. Die Gefangenen sammelten sich in einer Gruppe, sie wurden vom Wege abgedrängt und die Wachtmannschaft stellte sich auf.
    »Der Kaiser! Der Marschall! Der Herzog!« hieß es, und sogleich ritt eine Abteilung Kavallerie vorüber, und darauf folgte ein Wagen mit grauen Pferden. Peter erblickte flüchtig das ruhige, schöne, dicke und weiße Gesicht eines Mannes mit dreieckigem Hut, das war einer der Marschälle. Der Blick des Marschalls fiel auf die mächtige Figur Peters, und dieser glaubte in ihm Mitleid zu lesen, zugleich aber auch das Bestreben, es zu verbergen.
    Der General, der den Wagenzug führte, galoppierte auf seinem hageren Pferd mit rotem, erschrockenem Gesicht dem Wagen nach, einige Offiziere sammelten sich in einer Gruppe, und die Soldaten umgaben sie. Alle Mienen waren erregt und gespannt.
    »Was hat er gesagt?« hörte Peter. Als der Marschall vorüber war, erblickte Peter Karatajew, den er heute noch nicht gesehen hatte. Er sah Peter mit seinen guten runden Augen an und schien ihn zu sich zu rufen, um ihm etwas zu sagen, aber Peter tat, als ob er ihn nicht gesehen hätte, und ging rasch weiter. Als die Gefangenen sich wieder in Bewegung setzten, blickte sich Peter um. Karatajew saß am Rande des Weges unter einer Birke, und zwei Franzosen sprachen mit ihm. Peter sah sich nicht mehr um und ging hinkend den Berg hinan.
    Von der Stelle, wo Karatajew saß, hörte man einen Schuß. Peter vernahm deutlich den Schuß, aber in dem Augenblick, als er ihn hörte, erinnerte sich Peter, daß er zu zählen begonnen hatte, wieviel Tagemärsche bis Smolensk noch übrigbleiben, und begann wieder zu zählen. Zwei Franzosen, von denen einer ein rauchendes Gewehr in der Hand hielt, liefen an ihm vorüber, beide waren bleich, Peter sah auf ihren Gesichtern denselben Ausdruck wie bei dem jungen Soldaten bei der

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