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Krieg und Frieden

Krieg und Frieden

Titel: Krieg und Frieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lew Tolstoi
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und verließ keinen Augenblick ihre Mutter. Die ausdauernde, geduldige Liebe wirkte nicht wie ein Trost, sondern wie ein Ruf zum Leben auf die Gräfin. In der dritten Nacht schlummerte sie kurze Zeit, und auch Natalie schloß die Augen und stützte den Kopf auf die Lehne des Sessels. Sowie das Bett krachte, öffnete Natalie die Augen. Die Gräfin saß auf dem Bett und sprach leise. »Wie freue ich mich, daß du gekommen bist!« – Natalie ging zu ihr. – »Du bist hübscher und männlicher geworden«, fuhr die Gräfin fort und ergriff die Hand ihrer Tochter.
    »Mama, was sprechen Sie?«
    »Natalie! Er ist nicht mehr!« Sie umarmte die Tochter, und zum erstenmal begann sie zu weinen.

244
    Fürstin Marie schob ihre Abreise auf. Drei Wochen lang wich Natalie nicht von der Seite ihrer Mutter, schlief auf einem Lehnstuhl bei ihr im Zimmer, pflegte sie und sprach unaufhörlich, weil nur ihre milde, freundliche Stimme die Gräfin beruhigen konnte. Aber die Wunde, welche die Gräfin beinahe tötete, diese neue Wunde rief Natalie zum Leben zurück. Sie hatte geglaubt, ihr Leben sei zu Ende, aber da zeigte ihr die Liebe zu ihrer Mutter, daß das Wesen ihres Lebens, die Liebe, in ihr noch lebendig war. Als die Liebe erwachte, erwachte auch das Leben wieder.
    Die letzten Tage des Fürsten Andree hatten Natalie mit Marie eng verbunden, und das neue Unglück brachte sie einander noch näher. Es entstand jene leidenschaftliche, zärtliche Freundschaft, wie sie nur zwischen weiblichen Wesen vorkommt. Sie küßten sich beständig, redeten einander mit zärtlichen Worten an und brachten den größten Teil ihrer Zeit beisammen zu. Es war sogar noch ein stärkeres Gefühl als Freundschaft, es war das Gefühl, daß kein anderes Leben für sie möglich sei als in enger Gemeinschaft.
    Zuweilen schwiegen sie ganze Stunden, zuweilen begannen sie, im Bett liegend, zu sprechen und sprachen bis zum Morgen, und meist von längst Vergangenem. Die Fürstin Marie erzählte von ihrer Kindheit, von ihrer Mutter, ihrem Vater und ihren Träumen. Natalie, die sich früher mit ruhiger Verständnislosigkeit von diesem Leben der Hingebung und des Gehorsams, von der Poesie christlicher Selbstaufopferung abgewendet hatte, begriff jetzt Maries früheres Leben, und die Fürstin Marie erkannte jetzt erst, wenn sie den Erzählungen Natalies aus ihrer Jugend zuhörte, die früher ihr unverständliche Seite des Lebens, den Glauben an das Leben und die Freude des Lebens.
    Im Januar fuhr die Fürstin Marie nach Moskau, und der Graf bestand darauf, daß Natalie mit ihr fahren sollte, um sich mit den Ärzten in Moskau zu beraten.

245
    Der 5. November war der erste Tag der Schlacht bei Krasnoje. Gegen Abend, als es nach vielen Streitigkeiten und Irrtümern der Generale, welche nicht dorthin führten, wo es bestimmt war, und nach vielem Umhersenden von Adjutanten mit widersprechenden Befehlen, schon klar wurde, daß der Feind überall floh und keine Schlacht stattfinden könne und werde, kam Kutusow aus Krasnoje herausgeritten nach Dobroje, wohin das Hauptquartier verlegt wurde. Es war ein heller Frosttag, als Kutusow in Begleitung einer großen Suite von Generalen, welche mißvergnügt unter sich über ihn flüsterten, nach Dobroje ritt. Am ganzen Weg drängten sich die französischen Gefangenen, etwa siebentausend; nicht weit von Dobroje stand eine lange Reihe von französischen Geschützen. Bei der Annäherung des Oberkommandierenden verstummte das Stimmengewirr der Gefangenen und Soldaten, und alle Augen richteten sich auf Kutusow, der mit seiner weißen Mütze und im wattierten Mantel langsam des Weges daherritt, während einer der Generale ihm über die genommenen Geschütze und die Gefangenen Meldung machte, Kutusow schien nicht auf den General zu hören und blickte beständig nach denjenigen Gefangenen, die ein besonders klägliches Aussehen hatten. Die meisten Gesichter der Franzosen waren durch erfrorene Nasen und Wangen entstellt und fast alle hatten rote, entzündete Augen. Zwei Soldaten zerrissen mit den Händen ein Stück rohes Fleisch. Es lag etwas Schreckliches, Tierisches in dem flüchtigen Blick, den sie auf die Vorüberreitenden warfen, und in dem wütenden Ausdruck, mit dem der eine Kutusow anblickte.
    Kutusow sah lange aufmerksam nach diesen zwei Soldaten und wiegte gedankenvoll den Kopf. Vor dem Preobraschenskischen Regiment blieb er stehen und schloß die Augen. Ein Offizier der Suite winkte mit dem Arm, und die Soldaten, welche die Fahne

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