Krieg – Wozu er gut ist
Erfahrung der Soldaten vergangener Kriege. Aber Militärhistoriker erzählen auch größere Geschichten ganzer Schlachten, Feldzüge und Konflikte. Der Pulverdampf des Krieges ist notorisch dicht, und kein Einzelner hat je alles mitbekommen, was dahinter vorgeht, oder sämtliche Implikationen dessen verstanden, was passiert ist. Zur Lösung dieses Problems studieren Historiker Gefechtsberichte von Offizieren und offizielle Statistiken, sie besuchen Schlachtfelder und ziehen über die persönlichen Erfahrungen von Soldaten und Zivilisten hinaus zahllose weitere Quellen heran, um sich einen Eindruck zu verschaffen, der den des Einzelnen übersteigt.
Der militärhistorische Ansatz vermengt sich grundsätzlich mit einer dritten Betrachtungsweise des Kriegs, die wir als technische Studien bezeichnen könnten. Seit Tausenden von Jahren abstrahieren Berufssoldaten, Diplomaten und Strategen aus der Kriegspraxis allgemeine Prinzipien – für gewöhnlich unter Heranziehung sowohl eigener Erfahrungen als auch ihres Studiums der Geschichte. Man versucht so zu klären, wann zur Lösung von Streitigkeiten der Einsatz von Gewalt angezeigt ist und wie sie sich am effektivsten einsetzen lässt. Der technische Ansatz steht dem persönlichenpraktisch diametral gegenüber: Während der persönliche Ansatz die Gewalt von unten nach oben betrachtet und im Allgemeinen keinen Sinn darin zu sehen vermag, blickt der technische Ansatz aus der Vogelperspektive herab und sieht sehr wohl den Sinn hinter ihr.
Der vierte Ansatz dagegen führt uns noch weiter vom persönlichen Erleben weg, insofern er den Krieg als Teil eines breiteren Musters der Evolution unter die Lupe nimmt. Biologen wissen seit langem schon, dass Gewalt nur ein Werkzeug unter vielen ist, das den Lebewesen im Ringen um Ressourcen und Fortpflanzung zur Verfügung steht. Die offensichtliche Implikation, so der Schluss zahlreicher Archäologen, Anthropologen, Historiker und Politwissenschaftler, ist die, dass menschliche Gewalt sich nur erklären lässt, wenn man ihre evolutionären Funktionen durchschaut. Durch den Vergleich menschlicher Verhaltensmuster mit denen anderer Spezies erhoffen sie sich, die Logik hinter dem Krieg zu identifizieren.
Niemandem ist es bislang gelungen, alle vier Betrachtungsweisen des Krieges zu meistern. Nachdem ich nun mehrere Jahre Bücher zum Thema gelesen und mit einschlägigen Profis gesprochen habe, bin ich mir der Lücken in meiner persönlichen Erfahrung schmerzlich bewusst. Aber davon einmal abgesehen, möchte ich doch annehmen, dass mir dreißig Jahre in staubigen Bibliotheken und noch staubigeren Ausgrabungsstätten wenigstens eine gewisse Basis für den Versuch vermittelt haben, diese vier Ansätze unter einen Hut zu bringen und den Sinn des Kriegs zu erklären. Sie werden selbst urteilen müssen, ob ich damit recht habe, aber so wie ich es sehe, erkennen wir den Sinn des Kriegs am besten von einer langfristigen globalen Perspektive aus, von der es sich dann auf Schlüsselelemente einzoomen lässt. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Betrachtung des Krieges sich nicht von der eines jeden anderen Objekts von gewaltigen Dimensionen unterscheidet: Steht man zu nahe dran, kann man vor lauter Bäumen den Wald nicht sehen; steht man zu weit weg, verschwindet der Wald hinter dem Horizont. Der größte Teil sowohl der persönlichen als auch der militärhistorischen Betrachtungen hat meiner Ansicht nach vom Krieg nicht genug Abstand, während die meisten evolutionären Abhandlungen und viele technische Studien zu weit entfernt von ihm sind.
Dieses Vor-und-Zurück der Perspektive zeigt uns deutlich, wie sehr Langzeitentwicklungen sich von der zeitlich begrenzten Aktion unterscheiden, die sie bedingt. »Auf lange Sicht«, so bemerkte der Ökonom John Maynard Keynes in einem berühmten Bonmot, »sind wir alle tot.« 16 Auf kurzeSicht – will sagen: mit einem auf die Zeitspanne gerichteten Blick, in der wir tatsächlich leben – macht der Krieg uns nur noch schneller tot; und dennoch ist die Gesamtwirkung von 10 000 Jahren kriegerischer Auseinandersetzungen die, dass der Mensch heute länger lebt. Das Thema ist voller Paradoxa.
Keynes hat einen Gutteil seines beruflichen Lebens darauf verwendet, Großbritanniens Beitrag zu den Weltkriegen zu finanzieren, schrieb aber 1917 einem Freund: »Ich arbeite für eine Regierung, die ich verachte, zu einem Ende, das ich für kriminell halte.« 17 Er verstand, vielleicht besser als
Weitere Kostenlose Bücher