Krieg – Wozu er gut ist
Befehlsweg hinauf. Jetzt zählte jede Sekunde. Gleich sähe der Generalstab sich vor die wichtigste Entscheidung aller Zeiten gestellt.
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Ihr interessiert euch vielleicht nicht sehr für den Krieg, soll Leo Trotzki gesagt haben, aber der Krieg interessiert sich sehr für euch. 2 Cambridge war – ist es heute noch – eine verschlafene Universitätsstadt, fernab aller Zentren der Macht. 1983 jedoch war es von Fliegerhorsten der Luftwaffe umgeben, die auf Moskaus Abschussliste durchaus hoch oben zu finden waren. Hätte der sowjetische Generalstab sich auf Petrows Algorithmen verlassen, ich wäre binnen einer Viertelstunde tot gewesen, verdampft in einem Feuerball, heißer als die Oberfläche der Sonne. Das King’s College mitsamt seinem Chor, die neben Stechkähnen grasenden Kühe, die Wissenschaftler, die sich am High Table im Talar den Portwein reichten – alles wäre im nächsten Augenblick verschwunden gewesen, radioaktiver Staub.
Hätten die Sowjets nur die Raketen abgeschossen, die auf militärische Ziele gerichtet waren (Strategen sprechen in diesem Fall von einem Counterforce-Schlag), und hätten die Vereinigten Staaten entsprechend darauf reagiert, ich wäre einer von grob geschätzt einhundert Millionen Menschen gewesen, die da in die Luft geflogen wären, verbrannt, vergiftet, und das nur am ersten Tag eines Kriegs. Aber wahrscheinlich wäre es ohnehin ganz anders gekommen. Nur drei Monate vor Petrows Stunde der Wahrheit hatte man am amerikanischen Strategic Concepts Development Center anhand eines Planspiels herauszufinden versucht, wie wohl die ersten Phasen eines nuklearen Schlagabtauschs aussehen könnten. Wie sich herausgestellt hatte, war keiner der Beteiligten in der Lage gewesen, die Grenze zu ziehen und es bei Counterforce-Schlägen zu belassen; jedes der durchgespielten Szenarien war zu Countervalue-Angriffen eskaliert, bei denen neben Raketensilos auch Städte Ziel sind. Und in diesem Fall hätte sich die Zahl der Todesopfer am ersten Tag auf etwa eine halbe Milliarde erhöht; etwa eine weitere halbe Milliarde wäre in den folgenden Wochen und Monaten durch radioaktiven Niederschlag, Hunger und weitere Kampfhandlungen umgekommen.
In der realen Welt aber zog Stanislaw Petrow an jenem 26. September eine Grenze. Wie er später gestand, hatte er solche Angst, dass ihm schier die Beine versagten, und dennoch vertraute er seinem Instinkt mehr als seinen Algorithmen. Er sagte dem Offizier vom Dienst, dass es sich auch diesmal um einen Fehlalarm handelte. Man verhinderte, dass die Meldung den Befehlsweg bis nach ganz oben ging. Zwanzigtausend sowjetische Gefechtsköpfe blieben in ihren Silos; eine Milliarde Menschen erlebten den nächsten Tag.
Petrows Belohnung dafür, die Welt zu retten, bestand nicht etwa in einer Schatulle voll Orden. Er bekam eine offizielle Rüge dafür, schlampige Berichte abgeliefert und gegen das Protokoll verstoßen zu haben (es wäre Sache des Generalstabs gewesen, über die Zerstörung des Planeten zu entscheiden, nicht die seine). Man schob ihn auf ein Abstellgleis, gab ihm einen weniger kritischen Job. Dort ging er dann vorzeitig in den Ruhestand, erlitt einen Nervenzusammenbruch und rutschte in bittere Armut ab, als er nach dem Zerfall der Sowjetunion keine Altersversorgung mehr bekam. *1
Eine Welt wie diese – in der Armageddon am seidenen Faden schludriger Technik und den Bauchentscheidungen von Computerprogrammierern mittleren Alters zu hängen scheint – ist zweifelsohne dem Wahnsinn verfallen. So mancher konnte sich später, nach Bekanntwerden des Vorfalls, dieses Eindrucks schlicht nicht erwehren. Innerhalb des von den USA dominierten Bündnisses, wo dies den Menschen möglich war, gingen Millionen gegen Atomwaffen auf die Straße, protestierten gegen die Aggressivität ihrer jeweiligen Regierung und wählten Politiker, die eine einseitige Abrüstung versprachen. Auf sowjetischer Seite, wo die Menschen diese Freiheiten nicht hatten, bezogen einige Dissidenten heftiger als gewöhnlich Stellung – und sahen sich an die Geheimpolizei verraten.
Aber bewegt hat das alles kaum etwas. Westliche Führer sahen sich mit noch größeren Mehrheiten in die Ämter gewählt und kauften komplexere Waffensysteme denn je; die Sowjetführung stellte mehr Raketen auf. 1986 brach das weltweite Arsenal an Atomsprengköpfen mit über 70 000 alle Rekorde, und die Kernschmelze von Tschernobyl im selben Jahr gab der Welt einen winzigen Vorgeschmack von dem, was ihr bevorstehen
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