Krieg – Wozu er gut ist
übernommen, der sich die Freiheit der Märkte, freie Wahlen und Redefreiheit auf die Fahnen geschrieben hatte. Um diese Stärke wirksam zu nutzen, so realisierten die amerikanischen Strategen, mussten sie einen Krieg führen, der die Freiheit als Waffe einsetzte, um den sowjetischen Willen zum Widerstand zu unterminieren. Diese Art von Krieg konnten die Vereinigten Staaten sich nur leisten, wenn sie eine unsichtbare Faust in der Tasche hatten, die der unsichtbaren Hand Rückendeckung verschaffte, und so musste Washington, so unpopulär und abstoßend sich dies auch ausnahm, weiter Wasserstoffbomben bauen, Stellvertreterkriege führen und Diktatoren schmeicheln. Bei alledem aber durfte Amerikas Führungselite nie aus den Augen verlieren, dass Bomben, Schlachten und Brutalität den Sieg nicht bringen würden. Der konnte nur von den Bürgern des Sowjetimperiums selbst eingeläutet werden, die in langen Warteschlangen vor den Geschäften standen, Autos verfluchten, die nicht ansprangen, und Bruce Springsteen auf dem Schwarzmarkt erstanden. Ganz allmählich würde die unsichtbare Hand dem Kommunismus die Luft abdrücken.
Der Plan war alles andere als geheim. Bereits 1951 hatte der amerikanische Soziologe David Riesman in einer Kurzgeschichte mit dem Titel The Nylon War diese Strategie zu gleichen Teilen verspottet und gefeiert. Die militärische Spitze des Pentagons verkauft darin dem Weißen Haus einen Krieg des Liberalismus mit den Worten: »Wenn man es an den Reichtümern Amerikas teilhaben lässt, wird das russische Volk nicht lange Herren tolerieren, die sie mit Panzern und Spionen statt mit Staubsaugern versorgen.« 14 Der Präsident willigt ein, die Airforce One lässt Zigaretten undNylonstrümpfe vom russischen Himmel regnen, und der Kommunismus bricht zusammen.
Die Realität ist freilich nicht ganz so einfach, nicht zuletzt deshalb, weil es die Durchsichtigkeit des Plans den sowjetischen Ideologen leicht machte zurückzuschlagen, den amerikanischen Behauptungen die Wahrheit abzusprechen und die Ungerechtigkeiten des Kapitalismus anzuprangern. Aber dank der Tatsache, dass die vorhandenen Nuklearwaffen jeden Krieg zu einem Selbstmordkommando machen würden, zogen die Sowjets den Weg, den Hunderte Herrscher vor ihnen eingeschlagen hatten – auf den eigenen ökonomischen Niedergang zu reagieren, indem sie ihre wohlhabenderen Nachbarn angriffen, und deren reiche Provinzen oder Handelsrouten zu vereinnahmen –, niemals ernsthaft in Betracht. Stattdessen ließen sie den liberalistischen Zermürbungskrieg weitergehen, bis schließlich ihr Reich daran zerbrach.
Das Politbüro ließ das nicht deshalb geschehen, weil die Apparatschiks sämtlich Bruce Springsteen gehört hätten, sondern weil sie wussten, dass das Problem nicht mit Gewalt zu lösen war. In Westdeutschland oder Südkorea einzumarschieren hätte das Sowjetreich nicht so reich und produktiv gemacht wie das amerikanische, es wäre lediglich zur Katastrophe gekommen. Dreißig Jahre lang schafften es die Sowjets, die meisten Risse zu übertünchen und viele ihrer Bürger (und sogar einige Außenstehende) davon zu überzeugen, dass alles in schönster Ordnung sei und ihr Reich Bestand haben werde. In den 1980er Jahren aber war das nicht länger möglich.
Zu jener Zeit waren die Lebensmittelrationierungen und übrigen Unannehmlichkeiten der 1940er Jahre für die meisten Westeuropäer lediglich eine dunkle Erinnerung, aber in Osteuropa hatte man leicht das Gefühl, dass die Verhältnisse bald wieder so sein würden. »Es war ein regelrechter Kampf, so alltägliche Dinge wie Waschpulver zu bekommen«, erinnert sich eine polnische Krankenschwester. »Ich musste mein Haar mit Eigelb waschen, weil es kein Shampoo gab. … Wenn wir nichts über das Leben woanders erfahren hätten, wäre das etwas anderes gewesen. Aber uns war klar, wie andere Menschen lebten.« 15 Und wenn 1986 noch irgendwer Zweifel daran gehabt haben sollte, dass die Sowjetunion im Begriff war, den Wirtschaftskrieg zu verlieren, so wurden diese endgültig zerstreut, als der Reaktor von Tschernobyl durchschmolz, die Ukraine mit radioaktiver Strahlung überzog und die Inkompetenz und Unehrlichkeit des sowjetischen Regimes in einer Weise bloßstellte, die nicht mehr zu verbergen war.
»So kann man nicht weiterleben«, hatte Michail Gorbatschow seiner Frau 1985, nur wenige Stunden, bevor er zum russischen Präsidenten ernannt wurde, gestanden. 16 Die Sowjetunion war im Begriff, so sehr
Weitere Kostenlose Bücher