Krieg – Wozu er gut ist
zurückzufallen, dass binnen weniger Jahre die riesige, technisch zunehmend rückständige Rote Armee nicht mehr imstande sein würde, auf dem Schlachtfeld zu bestehen, ohne auf Kernwaffen zurückgreifen zu müssen. Die Panzer, die altbewährte sowjetische Antwort auf Unruhen im eigenen Imperium, würden nicht mehr lange als Option in Frage kommen.
Verzweifelte Zeiten verlangen nach verzweifelten Maßnahmen, und Gorbatschow, der erkannte, dass der Widerstandswillen des sowjetischen Imperiums dahinschwand, setzte alles auf eine Karte. Er wollte das Wirtschaftswachstum durch Umstrukturierung ( Perestroika ) und Transparenz ( Glasnost ) erneut ankurbeln und dabei – um jeden Preis – die Rückkehr zur Gewalt vermeiden, die nur ein schlimmes Ende nehmen würde.
Viele Amerikaner nahmen an, dass es sich um einen weiteren schlauen Zug im Spiel des Todes handelte (und zwar so schlau, dass sie nicht erkennen konnten, was die Sowjets wohl vorhatten). »Ich war argwöhnisch, was Gorbatschows Motive anging«, gestand George Bushs Nationaler Sicherheitsberater Brent Scowcroft später. 17 »Ich hatte Sorge, dass Gorbatschow uns zur Abrüstung überreden würde, ohne dass die Sowjetunion an ihrer eigenen militärischen Struktur etwas änderte, und wir uns in zehn oder zwanzig Jahren einer schlimmeren militärischen Bedrohung gegenübersehen würden denn je.«
Es gab Zeiten, da sah es so aus, als habe Scowcroft recht gehabt. Im Oktober 1986 saßen Reagan und Gorbatschow einander an einem Konferenztisch in Reykjavik gegenüber und fingen tatsächlich an, über ein Verbot sämtlicher Kernwaffen zu diskutieren. Dies versetzte amerikanische Verteidigungsexperten in blanke Panik. Den Sowjets mochte es vor dem neuen Hightech-Arsenal der NATO grauen, aber den Amerikanern – die wussten, dass nur wenige dieser Wunderwaffen bisher einsatzbereit waren – graute es nicht minder, wussten sie doch, dass es ihre konventionellen Truppen in Europa ohne nukleare Abschreckung extrem schwerhaben würden, gegen die sehr viel größeren sowjetischen Truppen zu bestehen. Aber Gorbatschow hatte gar nicht vor, irgendwen hereinzulegen, und ganz allmählich wurde klar, dass es ihm ernst damit war, das Spiel ohne den Einsatz von Gewalt über die Bühne zu bringen. Niemand wusste, was er daraus machen sollte.
»Ob wir gewusst haben, was kommt, als wir (im Januar 1989) das Amt antraten?«, fragte George Bush sechs Jahre später, und gab freimütig zu: »Nein, haben wir nicht.« 18 Und hätte Bush tatsächlich vorausgesehen, wie das Jahr zu Ende gehen würde, und bei seiner Amtseinführung prophezeit, dass er noch vor Ablauf seiner Amtszeit den Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums miterleben und mit ansehen würde, wie Russland sich hinter die Grenzen zurückzog, die Deutschland ihm 1918 aufgezwungen hatte, hätte jeder geglaubt, dass dieser Erzrealist und einstige CIA-Direktor von allen guten Geistern verlassen sei. Mehr als vierzig Jahre hindurch hatten die Vereinigten Staaten intrigiert, Ränke geschmiedet und Menschen getötet, alles nur, um den sowjetischen Willen zu brechen, aber als das Spiel schließlich in die Endphase ging, fielen die Menschen aus allen Wolken, im Osten wie im Westen.
Wenige Monate nach Bushs Amtseinführung verkündete eine offizielle Verlautbarung in Ungarn, dass der Aufstand von 1956 ein »Volksaufstand gegen ein oligarchisches Machtsystem gewesen [sei], das die Nation gedemütigt hatte«. 19 Zu Stalins Zeiten wäre ein solches Statement gleichbedeutend mit einer Einladung zum Massenselbstmord gewesen. Selbst unter Chruschtschow oder Breschnew hätte sie ernste Konsequenzen haben können. Aber Gorbatschow ließ nicht nur niemanden erschießen, er signalisierte schweigend Zustimmung.
Davon ermutigt richteten die Ungarn ihrem ehemaligen Präsidenten Imre Nagy, den die Sowjets seinerzeit hingerichtet hatten, im Juni 1989 ein feierliches Begräbnis aus. Daran nahmen 200 000 Trauernde teil, aber noch immer bewegte sich Moskau nicht. Ohne jemanden zu konsultieren, verkündete der ungarische Ministerpräsident, dass ihm die finanziellen Mittel fehlten, den Stacheldraht entlang der Grenze zu Österreich zu erneuern, und da der alte Zaun gegen die Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften verstoße, müsse er entfernt werden. Es drohte ein mehrere hundert Kilometer breites Loch im Eisernen Vorhang. Ostdeutsche Kommunisten ersuchten den Kreml in Panik zu einer Intervention, wurden aber abgewiesen: »Wir können nichts tun.«
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