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Krieg – Wozu er gut ist

Krieg – Wozu er gut ist

Titel: Krieg – Wozu er gut ist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Morris
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Leviathane hatten Gewalt angewandt, um politische Einheit zu erzwingen, und dann politische Mittel (und, wenn nötig, noch mehr Gewalt), um wirtschaftliche Einheit zu schaffen, Westeuropa aber stellte das erfolgreichste Rezept der Weltgeschichte auf den Kopf. In Ausschusssitzung über Ausschusssitzung knüpften seine unbesungenen Helden ein Netz aus Regeln und Verordnungen, das ihre Mitglieder zu einer ökonomischen Einheit verband, und nutzten dann die ökonomische Einheit, um die politische Einheit voranzutreiben.
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    Abbildung 7.1Eine Welt (fast) ohne Krieg
    Regionen in Europa, von denen in diesem Kapitel die Rede ist. Schwarz markierte Regionen gehören zur Europäischen Union und der Eurozone, grau markierte nur zur Europäischen Union (Stand 2013).

    Das Ziel sei letztlich, so erklärte 1994 Hans Tietmeyer, der Chef der deutschen Bundesbank, ein politisches: irgendeine Form der politischen Vereinigung innerhalb Europas, ein Staatenbund oder eine sogar noch engere Form der Einheit. 4 In diesem Zusammenhang sei die Wirtschaftsunion nur ein wichtiger Schritt von vielen zur Erreichung dieses Ziels.
    Das war zugleich der ödeste und der gewagteste Trick, den Staatsmänner je über die Bühne gebracht hatten, und nach der Unterzeichnung des entscheidenden Vertrags in Maastricht 1992 schien er über fünfzehn Jahre lang zu funktionieren. Europa blieb ein Mosaik aus unabhängigen Staaten, aber von Irland bis Estland verfügten die meisten Europäer nun über einegemeinsame Währung und eine Zentralbank, beugten sich Entscheidungen eines Europäischen Gerichtshofs und Parlaments und überquerten Grenzen ohne Pässe. Bis zum Jahr 2010 schien der mühsame Weg der Konsensbildung Europa tatsächlich von hier nach da bringen zu können.
    An diesem Punkt stürzten die Länder, die den Euro als Währung übernommen hatten, in eine Schuldenkrise (oder genauer: eine Zahlungsbilanzkrise), die den hochproduktiven Norden und den weniger produktiven Süden entzweite, und waren mit den Grenzen einer auf Regeln basierenden Union konfrontiert. Ein Leviathan alter Schule hätte Gewalt anwenden können, um die Probleme zu lösen – wie weiland Großbritannien, als es Kanonenboote nach Griechenland schickte, um dessen Schulden einzutreiben –, aber im neuen Europa wird kein deutscher Panzer durch Athens Straßen rollen, um die Fiskaldisziplin wiederherzustellen.
    Indem sie sich auf die unsichtbare Hand des Marktes statt auf die unsichtbare Faust militärischer Macht verlässt, um ihre Regelwerke durchzusetzen, scheint die Europäische Union am Rande des Abgrunds zu lavieren. Ende 2011 äußerte die Schweizer Bank UBS öffentlich ihre Sorge, es könne zu Massenprotesten, vielleicht gar zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommen. Das klingt einigermaßen ernüchternd. Aber in dem Moment, in dem ich dies schreibe (in der Jahresmitte 2013), hat es doch den Anschein, als vermöge die so oft gescholtene Politik der meisterhaften Untätigkeit – gerade genug zu unternehmen, um verschuldete Staaten flott zu halten, aber keinen Streich mehr – die Katastrophe abzuwenden. Ungeachtet explodierender Arbeitslosigkeit, gewalttätiger Straßenproteste und politischer Krisen ist Griechenland noch immer Teil der Eurozone; und obwohl der Druck auf Irland, Portugal, Spanien, Italien, sogar auf Frankreich wächst, ist bisher keiner dieser Staaten kollabiert. Weit davon entfernt, Europa auseinanderfallen zu lassen, wird die Krise womöglich zu einer Chance, die politische Zentralisierung einen Schritt weiter zu treiben. Ohne einen einzigen Schuss abgegeben zu haben, kriegen Europas Verwaltungsbeamte vielleicht hin, worin Napoleon und Hitler versagt haben.
    Das Nobelpreis-Komitee belohnten dieses friedliche Vorgehen im Jahr 2012 mit der Verleihung des Friedensnobelpreises an die gesamte Europäische Union. Und das mit gutem Recht: Die Bürger der Union ermorden einander seltener als andere Menschen auf der Erde, ihre Regierungen haben die Todesstrafe abgeschafft, sie haben den Krieg aus ihren Grenzen verbannt und verzichten sogar auch außerhalb mehr oder weniger darauf.Europäer außerhalb der Union machen hin und wieder noch immer die Erfahrung, dass Gewalt sich auszahlt, wie beispielsweise Russland mit seinem »Fünftagekrieg« gegen Georgien im Jahr 2008, aber innerhalb der Union überwiegt deren Ablehnung. Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik kennt das Recht zum Einsatz von Gewalt, aber nur Frankreich und

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